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Es begann mit dem "Panthersprung"

Kanonenbootpolitik vor 100 Jahren

Von Gerd Fesser *

Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte hatte sich in Mittel- und Osteuropa fast alles verändert, in Nordafrika und dem Nahen Osten hingegen fast gar nichts. In Ägypten, Tunesien und weiteren Staaten regierten Despoten, die im Westen wegen ihrer Frontstellung gegen den Islamismus sehr geschätzt wurden. Für die Innenpolitik dieser Despoten, für die Lage der Menschen dort interessierte man sich herzlich wenig.

Da kam in diesem Jahr der »arabische Frühling«. In Tunis und Kairo wurden die Tyrannen vom Volk hinweggefegt, in Tripolis musste sich der Diktator verstecken, in Damaskus und Sanaa gerieten die Tyrannen in arge Schwierigkeiten. Seitdem verfolgt die ganze Welt die Ereignisse mit großer Aufmerksamkeit, mittlerweile auch mit Sorge, denn noch ist offen, wie das Ringen um Demokratie ausgehen wird.

Auch vor 100 Jahren schauten Regierende und Wirtschaftskreise der europäischen Mächte auf Nordafrika. Damals war die Ansicht weit verbreitet, Ansehen und Zukunftsaussichten eines Staates hingen vom Besitz überseeischer Kolonien ab. Zu dieser Zeit waren Algerien und Tunesien fest in der Hand der Kolonialmacht Frankreich, Ägypten in der Hand der Briten. Marokko aber war noch selbstständig.

Am 1. Juli 1911 war vor dem Hafen von Agadir urplötzlich das deutsche Kanonenboot »Panther« aufgetaucht. Agadir, im südlichen Marokko gelegen, war vor 100 Jahren ein verträumtes Küstenstädtchen, in dem lediglich einige hundert Menschen wohnten und dessen Name außerhalb Marokkos wenig bekannt war. In einem Artikel der »Rheinisch-Westfälischen Zeitung (hinter der die Montan-Industriellen des Ruhrgebietes standen) war zu lesen: »Vor Agadir liegt nun ein deutsches Kriegsschiff. Die Verständigung mit uns über die Aufteilung [Marokkos] steht, ihnen [den Franzosen] noch frei, wollen sie nicht, dann mag der »Panther« die Wirkung der Emser Depesche haben.« Worum ging es?

Schon seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts spielte sich in Marokko ein erbitterter Kampf zwischen deutschen und französischen Rüstungskonzernen ab, die beide bestrebt waren, sich die reichen Erzvorkommen dieses Landes und den profitablen Waffenhandel zu sichern. (Der Waffenhandel nach Nordafrika und in den Nahen Osten spielt auch heue noch eine große Rolle. Man denke nur an die Berichte; der Rüstungskonzern Krauss-Maffei Wegmann wolle den Kampfpanzer Leopard 2 an Saudi-Arabien liefern). Es war den Franzosen gelungen, sich durch ein geheimes Abkommen mit England vom Jahre 1904 und durch die Beschlüsse der Konferenz von Algeciras (1906) entscheidende Vorteile gegenüber ihren deutschen Konkurrenten zu verschaffen. Im Mai 1911 hatten französische Truppen die marokkanische Hauptstadt Fez besetzt. Es sah ganz so aus, als würde das Deutsche Reich bei der Aufteilung der Reichtümer Marokkos leer ausgehen.

Der Leiter des Auswärtigen Amtes, Staatssekretär Alfred von Kiderlen-Wächter, inszenierte nun den »Panthersprung« und löste so die 2. Marokkokrise aus, die sich dann bis zum November 1911 hinzog. Am gleichen Tag, an dem das deutsche Kanonenboot vor Agadir auftauchte, erklärte das Auswärtige Amt, deutsche Firmen in Agadir und Umgebung seien durch Volksaufstände beunruhigt und hätten die Reichsregierung deshalb um Schutz gebeten. Diese Erklärung hatte freilich einen kleinen Schönheitsfehler: In und um Agadir gab es nicht eine einzige deutsche Firma!

In Paris und London vermutete man, Kiderlen wolle den Süden Marokkos annektieren. Dieser verfolgte aber in Wirklichkeit das Ziel, in Mittelafrika ein riesiges deutsches Kolonialreich zu errichten. Er betrachtete Agadir als »Faustpfand« und meinte, seine versteckte Kriegsdrohung werde die französische Regierung einschüchtern und dazu bewegen, ihre Kongo-Kolonie an das Deutsche Reich abzutreten. Von der Kongo-Kolonie aus, so spekulierte er, könne es später gelingen, sich die großen Kolonien der Belgier und Portugiesen (Kongo, Angola und Mozambique) anzueignen. Der Staatssekretär wollte durchaus keinen Krieg, sondern wollte nur hoch pokern.

Kiderlens Erpressungstaktik schlug aber fehl. Frankreichs Verbündeter England versetzte seine gewaltigen Seestreitkräfte in Kampfbereitschaft, und die deutsche Regierung musste zum Rückzug blasen. Im November 1911 schlossen Deutschland und Frankreich einen Kompromiss. Die deutsche Regierung erkannte die französische Vorherrschaft über Marokko an, und die französische Regierung trat einen Teil der Kongo-Kolonie (275 000 Quadratkilometer) an Deutschland ab. Damit war für die deutsche Seite nur ein mageres Beutestück abgefallen. Die gewonnenen Gebiete am Kongo waren nämlich von tropischen Sümpfen bedeckt und durch die Schlafkrankheit verseucht (deshalb auch »Schlafkongo« genannt).

Das Spiel mit dem Feuer, das die Matadore der Wilhelmstraße inszeniert hatten, sollte böse Folgen haben. Die Widersprüche zwischen der Entente (England, Frankreich, Russland) und dem deutsch-österreichischen Block verschärften sich weiter. Es setzte eine neue gefährliche Phase des Wettrüstens ein. Genau drei Jahre und einen Monat nach dem »Panthersprung« begann der Erste Weltkrieg.

* Aus: Neues Deutschland, 27. August 2011


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