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"Ein harter, sehr harter Weg"

Vor zwei Jahren intervenierte Frankreich in Mali. Ein Reportageband zeichnet ein differenziertes Bild des westafrikanischen Landes

Von Jörg Tiedjen *

Zu Beginn ihres Bandes mit zwölf Reportagen verdeutlicht Charlotte Wiedemann anhand eines Alltagsgegenstandes, worum es ihr geht: Es ist ein blauer, eiserner Stuhl. Traditionell sitzt man in Mali schlicht auf dem Boden, aber wenn es zum Beispiel um die Teilnahme an einer Debatte geht, dann tritt er in Aktion, der Stühleverleiher, der solche Sitzgelegenheiten vermietet. Die Metallstühle stehen für eine Utopie, schreibt die Autorin, nämlich über das eigene Schicksal entscheiden zu können. Denn genau dies bleibt den Maliern versagt. Wie bei einem Unfall, dessen Zeuge man wird, ohne ihn verhindern zu können, mussten sie mit ansehen, wie ihr Land buchstäblich zerbrach und seine Souveränität ausgehöhlt wurde. Es sind nicht mehr sie, die über die Geschicke Malis bestimmen, sondern internationale Finanzinstitutionen oder auch Frankreich, das heute wieder Truppen in seiner früheren Kolonie stationiert hat.

Die Demütigung wiegt umso schwerer, als die Malier Grund haben, stolz auf ihr Land zu sein. So führt das erste Kapitel nach Timbuktu, im Mittelalter Wiege einer eigenständigen afrikanisch-islamischen Kultur. Zeugnis davon geben bis heute die Bibliotheken der Stadt, die Hunderttausende Handschriften bergen. Sie gelangten am Vorabend der französischen Militärintervention vom Januar 2013 in die Schlagzeilen, als berichtet wurde, dass die Dschihadisten, die damals den Norden Malis kontrollierten, sie in Brand gesteckt hätten. Die Bücher waren aber heimlich nach Bamako in Sicherheit gebracht worden – eine Geschichte von Mut und Zivilcourage, die allerdings weit weniger Aufmerksamkeit fand. Die Autorin besucht auch Kurukan Fuga, wo im Mali-Reich des 13. Jahrhunderts eine Verfassung ausgerufen wurde, die Artikel enthielt, die die modernen Menschenrechte vorwegnahmen.

Ernüchternd erscheint vor diesem Hintergrund die Gegenwart. Das Buch lässt keinen Zweifel: Das politische System des Sahelstaats, das als stabil und vorbildlich galt, bis es im Frühjahr 2012 in sich zusammenbrach, war seit langem nichts als eine Fassade. Hervorgegangen war es aus einer Revolution im Jahr 1991, mit der die Malier mehr als zwei Jahrzehnten Militärdiktatur ein Ende setzten. Allerdings gerieten die darauf gewählten Regierungen in Abhängigkeit von internationalen Kreditgebern, die ihnen eine neoliberale Politik aufzwangen. Als Vollstreckungsgehilfen profitierten die Vertreter des politischen Establishments vom Ausverkauf Malis, dem sie zugleich eine scheinbar demokratische Legitimation gaben. Dennoch wurden die alten Verhältnisse auf internationalen Druck hin mit Eile restauriert. Einen Neuanfang, wie ihn sich viele Malier erhofft hatten, gab es nicht. Es sollte weitergehen wie bisher.

Der 2012 nach einer Tuareg-Revolte durch Proteste von Frauen und einen Putsch gestürzte Präsident Amadou Toumani Touré soll die Aktivitäten von »Al-Qaida im islamischen Maghreb« im Norden des Landes sogar gefördert haben. Auf diese Weise habe er versucht, ein Gegengewicht zu den Tuareg-Notabeln der Stadt Kidal zu installieren, die immer wieder in der Geschichte des unabhängigen Mali gegen Bamako aufbegehrten. Als dann 2011 die NATO Libyen angriff, nahm das Unheil seinen Lauf. Frankreich, die treibende Kraft bei diesem Krieg, habe es zumindest geschehen lassen, dass malische Tuareg-Soldaten, die im libyschen Militär gedient hatten, schwer bewaffnet in ihre Heimat zurückkehrten, um dort erneut einen Aufstand zu beginnen. Bis heute werfen viele Malier Frankreich vor, die so entstandene »Nationalbewegung für die Unabhängigkeit von Azawad« für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

Hinter den Kulissen lief offenbar ein noch weit schmutzigeres Spiel um Mali, wie es etwa Jeremy Keenan für seine Bücher »The Dark Sahara« und »The Dying Sahara« recherchiert hat. Bei den vorliegenden Reportagen geht es jedoch darum, dem unbekannten Mali und seinen Einwohnern erst einmal Gesicht und Gestalt zu verleihen. Die Autorin spricht mit Religionsführern, die in Stadien ein Massenpublikum an sich ziehen. Sie erklärt die Selbstverwaltung auf dem Land, beschreibt die Entfremdung durch den französischen Schulunterricht, widmet sich den Auswirkungen des europäischen Grenzregimes oder besucht Falea, ein abgelegenes Waldgebiet, in dem ein kanadischer Konzern Uran fördern will. Immer wieder geht es um die Folgen des Neoliberalismus. Die privatisierte Eisenbahn, die Bamako mit Dakar verbindet, befördert kaum mehr Personen, sondern überwiegend Fracht. Mit dem Abtransport der Reichtümer des Landes lässt sich mehr verdienen als mit Dienstleistungen für seine verarmten Einwohner.

Die letzte Reportage führt in den Norden des Landes zurück, diesmal in die Stadt Gao. Die Spuren des Krieges sind unübersehbar, die Abgründe, die er zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen aufgerissen hat, kaum auszuloten. Die Dschihadisten sind verschwunden, und zugleich sind sie es nicht. Es gibt Bombenattentate, Selbstmordkommandos – Formen von Gewalt, die man zuvor in Mali nicht kannte. Tausende ausländischer Soldaten sind in dem Landesteil stationiert. Wann sie abziehen werden, ist ungewiss. Statt Frieden zu bringen, ist die Militarisierung der Region weiter vorangetrieben worden. Internationale Organisationen, fremde Regierungen haben das Land fester im Griff als je zuvor. Werden die Malier die Kraft besitzen, dem Teufelskreis zu entkommen? »Der Weg ist hart, sehr hart«, zitiert die Autorin die Nationalhymne des Landes.

Charlotte Wiedemann: Mali oder das Ringen um Würde. Meine Reisen in einem verwundeten Land. Pantheon, München 2014, 304 S., 14,99 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 2. Februar 2015


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