Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Koloniale Arbeitsteilung

Französische Luftwaffe bombt Malis Armee den Weg frei. Der werden Morde an Zivilisten und Plünderungen vorgeworfen

Von André Scheer *

Unter dem Schutz französischer Truppen geht die malische Armee offenbar brutal gegen die Zivilbevölkerung vor. Wie die internationale Menschenrechtsorganisation FIDH am Donnerstag in Paris verbreitete, nimmt vor allem die Zahl von Massenhinrichtungen in den zurückeroberten Gebieten Malis zu. Dutzende Menschen seien seit dem 10. Januar in Sévaré und anderen Orten im Zentrum des nordwestafrikanischen Landes von den offiziellen Streitkräften exekutiert worden. Zudem seien die Unterkünfte zahlreicher Tuareg von Soldaten durchsucht und geplündert worden. Den willkürlichen Morden fielen demnach nicht nur Menschen zum Opfer, die im Verdacht stehen, »Komplizen der Dschihadisten« zu sein, sondern auch solche, die sich bei Kontrollen nicht ausweisen konnten, im Besitz von Waffen waren oder bestimmten ethnischen Gruppen angehören.

»Diese Serie schwerer Verbrechen bestätigt die Sorgen, die wir seit mehreren Wochen formuliert haben«, erklärte FIDH-Präsident Souhayr Belhassen. »Diese Racheakte und die extremen Spannungen, die es zwischen den Gemeinden gibt, bilden einen explosiven Cocktail, der uns das Schlimmste befürchten läßt.« Die malische Armee weist alle Vorwürfe zurück – und sperrte Sévaré für Journalisten, um Nachforschungen zu verhindern. Demgegenüber wollte Frankreichs Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian die Verbrechen am Mittwoch abend im Fernsehsender France 24 nicht ausschließen. Man habe von dem »Risiko« gewußt, daß es Menschenrechtsverletzungen geben könne. Man vertraue aber darauf, »daß die malischen Armeeführer die Verantwortung übernehmen, Übergriffe zu verhindern«, sagte Drian. »Ihre Ehre steht auf dem Spiel.«

In dem Krieg der französischen und malischen Truppen, die offenbar nur zögerlich von Einheiten aus anderen westafrikanischen Ländern unterstützt werden, zeichnet sich immer deutlicher eine »Arbeitsteilung« ab. Die französische Luftwaffe bombardiert Dörfer, in denen Kämpfer der islamistischen Milizen vermutet werden. Dann rücken die Bodentruppen nach, die zumeist auf keinen nennenswerten Widerstand mehr stoßen. So berichtete der malische General Ibrahima Dahirou Dembélé dem französischen Auslandssender Radio France Internationale, bei der Rückeroberung der Stadt Diabaly am Montag habe es zwar heftige Kämpfe gegeben, »aber nicht mit Elementen am Boden«. Die »französischen Verbündeten« hätten aus der Luft »alle feindlichen Fahrzeuge und alle feindlichen Elemente neutralisiert«.

Während sich die französische Regierung weiter bemüht, den Eindruck von einem »sauberen Krieg« gegen die Islamisten zu verbreiten, sind zuverlässige Informationen aus den Orten des Geschehens kaum zu bekommen. Wie dramatisch die Situation tatsächlich ist, läßt sich an den Flüchtlingszahlen ermessen. Tausende Menschen konnten sich in die Nachbarländer retten. Sie hätten ihre Häuser wegen der Luftangriffe und Kämpfe verlassen, berichtete das UN-Flüchtlingshilfswerk ­UNHCR am Dienstag.

Statt um die Menschen kümmert sich Frankreich lieber um das Wohlergehen seiner Konzerne. Wie die Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag meldete, hat Paris Eliteeinheiten in die an Mali angrenzende Republik Niger geschickt, damit diese dort die Uranbergwerke des Konzerns Areva schützen.

Unterdessen ist es auf seiten der Dschihadisten in Mali zu einer Spaltung gekommen. Der bisher als Führer der »Ansar Dine« bekannte Ag Intallah erklärte Reuters zufolge, er habe eine neue Organisation gegründet und wolle über eine Waffenruhe verhandeln.

* Aus: junge Welt, Freitag, 25. Januar 2013


"Die Tuareg wollen ihren eigenen Staat"

Intervention in Mali ist neokolonialistischer Krieg. Frankreich unterschätzt den Gegner. Ein Gespräch mit Angelo Del Boca **

Der Italiener Angelo Del Boca gehört zu den wichtigsten Historikern zum Thema europäischer Kolonialismus in Nord­afrika. Er kämpfte als Partisan gegen deutsche und Mussolini-Faschisten.

Der Krieg in Mali beherrscht weiter die Schlagzeilen, worum geht es bei der französischen Intervention in diesem Land?

Um die Zerschlagung der Gruppe von Islamisten, die die Macht im Norden Malis ausübt und mit Al Qaida verbündet ist. Von Mali aus könnte sich diese auf den Milizionären der Bewegung für die Einheit des Dschihad in Westafrika (MUJAO) basierende Kraft auf die gesamte Sahelzone ausdehnen. Das ist der Grund, warum Frankreichs Präsident François Hollande das Kontingent seiner Streitkräfte in Mali von 600 auf 2500 Mann erhöht. Er hat ja auch Kampfflugzeuge entsandt und seine Verbündeten USA, Großbritannien, Deutschland, Italien usw. um logistische Unterstützung gebeten.

Wie schätzen Sie die militärische Lage ein?

Diese Mudschaheddin, die einen eigenen Staat Azawad gründen wollen, haben eine erstklassige militärische Ausbildung. Es handelt sich weitgehend um Angehörige des Stammes der Tuareg, der mit Muammar Al-Ghaddafi verbündet war und von ihm beschützt und bewaffnet wurde.

Warum konzentriert sich Al Qaida in letzter Zeit verstärkt auf die Sahelzone?

Das Gebiet umfaßt die gesamte Sahara von Marokko bis Ägypten und von Algerien bis zum Niger und zum Tschad. Al Qaida ist in dieser Region schon seit Jahren verankert, hat sich aber bislang auf Geiselnahmen und begrenzte Auseinandersetzungen beschränkt. Die Präsenz der Tuareg in diesem weitläufigen Gebiet ist sicher die wichtigste Tatsache, weil alle ihre militärischen Fähigkeiten kennen. Und genau das ist ein Element, das der französische Präsident nach meiner Einschätzung mit Sicherheit unterschätzt hat.

Könnte Mali zum französischen Afghanistan werden?

Diese Gefahr besteht durchaus. Auch wenn die vorhandenen Kräfte zahlenmäßig bescheidener sind und man die zigmillionen Afghanen mit den wenigen zehntausend Tuareg nicht gleichsetzen kann, sollte man bedenken, daß die Bewegung der Tuaregs nicht so gespalten sind wie die Afghanen. Daher sind sie sehr gefährlich.

Auch über eine direkte Beteiligung Italiens an diesem Konflikt wird nun intensiv diskutiert. Was halten Sie davon?

Gar nichts. Es ist zu hoffen, daß man von Italien keine bewaffnete Intervention fordert, selbst wenn sie auf den Einsatz von Flugzeugen, wie beim Libyen-Krieg, beschränkt wäre. Es ist gut, sich in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß unsere Verfassung das Führen von Kriegen verbietet.

Welche Auswirkungen hatte das »Chaos« nach dem Sturz Ghaddafis in Libyen, das Sie in Ihren jüngsten Veröffentlichungen des öfteren erwähnen, auf Mali und die Region?

Der Sturz Ghaddafis war traumatisierend, weil der Oberst, solange er an der Macht war, die Armee der Tuareg kontrollierte. Er hatte ihnen eine bedeutende Hilfe bei ihrem Streben nach einem eigenen Staat versprochen, und die Tuareg unterstützten ihn in seinem letzten, elf Monate dauernden Kampf. Erst nach seinem Fall verließen sie Libyen und gingen zurück in ihre Herkunftsländer, mit großen Mengen an Waffen im Gepäck. Und mit dem Entschluß, jetzt endlich den lang ersehnten eigenen Staat zu schaffen.

Ist eine politische Lösung denkbar, oder werden nur die Waffen entscheiden?

Mit Sicherheit werden lange Zeit nur die Waffen über die Situation entscheiden. Dann wird man allerdings nicht umhin können, Verhandlungen zu organisieren und eine friedliche Lösung zu finden.

Der französische Philosoph Bernard-Henri Levy hat Hollande – genau wie zuvor Sarkozy im Fall Libyen – ideologische Rückendeckung verschafft und erklärt, dies sei kein Kolonialismus, sondern ein gerechter Krieg. Teilen Sie diese Auffassung?

Nein. Im Unterschied zum Krieg in Libyen, der ein gezielter Angriff auf ein souveränes Land war, ist der Krieg in Mali etwas anderes. Hier geht es darum, einen bereits existierenden Staat wieder herzustellen. Dabei muß man allerdings anmerken, daß auch die Tuareg seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit Jahrhunderten auf der Suche nach einer Heimat sind. Deshalb ist dieser Krieg gegen sie in vielerlei Hinsicht ein neokolonialer Krieg. Was den Konflikt sehr kompliziert macht, das Ende ist nicht absehbar.

Interview: Raoul Rigault

** Aus: junge Welt, Freitag, 25. Januar 2013


Zurück zur Mali-Seite

Zur Frankreich-Seite

Zurück zur Homepage