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Mazedonien braucht eine Partei wie SYRIZA

Artan Sadiku über Chancen zur Bildung einer wirksamen linken Opposition in seinem Land *


Artan Sadiku leitet das unabhängige Institut für Sozial- und Geisteswissenschaften in Mazedoniens Hauptstadt Skopje. Das Land wird seit 2006 von einer Koalition der konservativ-nationalistischen VMRO-DPMNE mit der DUI, einer Partei der albanischen Minderheit, regiert. Beide Parteien haben ihre Positionen bei den Parlamentswahlen am 27. April ausgebaut. Jerko Bakotin befragte Artan Sadiku für »nd« zur Situation in Mazedonien nach diesen Wahlen.


Die konservativ-nationalistische mazedonische Regierungspartei VMRO-DPMNE hat die Wahl am 27. April wieder gewonnen und mit 61 von 123 Parlamentsmandaten nur knapp die absolute Mehrheit verfehlt. Wie erklären Sie das?

Eigentlich hat das alle überrascht, auch die VMRO-DPMNE selbst. Man hatte erwartet, dass die Regierungspartei an Boden verliert. Sie ist bereits seit 2006 an der Macht, dazu erhob der Oppositionsführer Korruptionsvorwürfe gegen Ministerpräsident Nikola Gruevski. Aber die Medien, die von der Regierung kontrolliert werden, haben darüber geschwiegen, das Ansehen der Regierungspartei blieb unangetastet. Anderseits hört man von Wahlbetrug, Druck und Erpressung der Wähler. Niemand hatte einen so großen Unterschied zwischen der Regierungspartei und der sozialdemokratischen Opposition, die nur auf 34 Sitze kam, erwartet. Sicher müsst man die Unregelmäßigkeiten untersuchen.

Die Parteispitze der Sozialdemokraten hat am Donnerstag beschlossen, das neue Parlament zu boykottieren.

Ja, wegen der Manipulationen wollen sie die neue Regierung nicht anerkennen. Meiner Meinung nach genügt es jedoch nicht, einen solchen Schritt zu deklarieren. Die Opposition müsste alle Ämter und Institutionen verlassen, um ihrer Forderung nach neuen, fairen und freien Wahlen Nachdruck zu verleihen.

Tatsächlich aber wird Mazedonien auch in den nächsten vier Jahren von der VMRO-DPMNE und ihrer albanischen Koalitionspartnerin DUI regiert. Was ist davon zu erwarten?

Wenn man in Rechnung stellt, was während des Wahlkampfes gesagt wurde, dürfte es keine größeren Veränderungen geben. Da war nichts Neues zu hören, was etwa den Streit mit Griechenland um den Namen des Landes, den Beitritt zur EU oder die Innenpolitik betrifft. Allerdings könnte sich in der Gesellschaft ein neuer Diskurs entwickeln, der Albaner und slawische Mazedonier in Opposition zur heutigen Regierung vereinigt. Die Regierungsparteien sind gemeinsam dafür verantwortlich, dass Mazedonien in den vergangenen zehn Jahren keine Fortschritte gemacht hat.

Die soziale Lage ist katastrophal: Die Arbeitslosenquote liegt bei 30 Prozent, ebenso hoch ist der Prozentsatz derer, die unter der Armutsgrenze leben. Wird sich daran etwas ändern?

Mazedonien hat sich in den letzten Jahren hoch verschuldet, darunter bei der Deutschen Bank. Ich erwarte für 2015 eine Explosion des sozialen Elends: Die Regierung muss die Schulden begleichen, sie wird daher Sozialausgaben, Renten und Leistungen für Arbeitslose kürzen wollen. Ich befürchte, dass sich daraus eine ziemlich gefährliche soziale Situation entwickelt. Üblicherweise hat die Regierung soziale Spannungen auf das Feld der interethnischen Beziehungen übertragen, um die Unzufriedenheit mit der sozioökonomischen Lage zu tarnen und Klassenunterschiede zu verwischen. Solche Manipulationen haben in Mazedonien bisher meist gewirkt: Sobald Spannungen auftreten, ist automatisch eine ethnische Homogenisierung zu beobachten.

Außerdem wird die Regierung ihre neoliberale Politik fortsetzen: Hauptziele sind ausländische Investitionen, Schwächung der Rechte der Arbeitenden und Kontrolle über die Gewerkschaften.

Aber es gibt auch einige erfreuliche Entwicklungen. Erstmals haben Aktivisten der Organisation »Solidarnost« an diesem 1. Mai gemeinsam mit einigen Gewerkschaften demonstriert. Wir versuchen, die Arbeiter zu mobilisieren, und vielleicht gelingt es uns in diesem oder im nächsten Jahr, einen Generalstreik zu organisieren.

Wie stehen die Chancen, eine wirksame linke Opposition zu schaffen?

In den Augen vieler hat die jetzige Opposition ihre Glaubwürdigkeit und ihre Fähigkeit zur Mobilisierung der Bürger verloren. Sie war nicht in der Lage, linke Kritik an der neoliberalen Regierungspolitik zu artikulieren. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht im linken Teil des politisches Spektrums eine weitgehende Leere. Daraus erwächst für Aktivisten und Teile der Gewerkschaften die Chance, eine Initiative zu gründen, die sich langfristig zu einer ernsthaften politischen Partei entwickelt, etwa wie SYRIZA in Griechenland. Sie sollte nicht nur bisher passive Bürger einbeziehen, sondern auch diejenigen, die von der Sozialdemokratie mehr Widerstand gegen die neoliberale Politik erwartet hatten.

Das ist natürlich eine Herausforderung, was Organisations- und Mobilisierungskraft betrifft. Wir brauchen mehr bekannte Intellektuelle, die sich uns anschließen, und es fehlt auch an Ressourcen. Aber das Beispiel der neuen Initiative für Demokratischen Sozialismus in Slowenien ermutigt uns. Gewiss wird es ein paar Jahre dauern, bis diese Partei gegründet wird. Sie könnte aber das ganze politische Spektrum herausfordern, sie könnte die neoliberale Politik und den ethnozentrischen Diskurs anfechten, der seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 in Mazedonien herrscht.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 6. Mai 2014


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