Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Regierungswechsel in Mazedonien (Makedonien)

Chance für Versöhnungsprozess? Die Zweifel überwiegen

Im Folgenden dokumentieren wir die Wahlergebnisse aus Makedonien, soweit sie bisher vorliegen und berichten über die unterschiedlichen Reaktionen, welche die Wahlen im Blätterwald hier zu Lande ausgelöst haben.

Martin Schwarz berichtet aus Wien u.a.:

Das von der Sozialdemokratischen Union (SDSM) geführte Parteienbündnis »Gemeinsam für Mazedonien« hat die – am Wahltag friedlich verlaufenen – Parlamentswahlen in Mazedonien für sich entschieden. Beobachter erwarten eine Entspannung des Konflikts zwischen slawischen und albanischen Mazedoniern. Die Mazedonier haben bei den Parlamentswahlen am Sonntag die bisherige Regierung von Premier Ljubco Georgievski in die Opposition geschickt. Schon in der Nacht zum Montag gestand der amtierende Regierungschef seine Niederlage ein, er gratulierte dem sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Branko Crvenkovski zu dessen Sieg.


Nach dem vorläufigen Wahlergebnis führt das oppositionelle Wahlbündnis unter Führung der Sozialdemokratischen Union (SDSM) mit 44,9 Prozent. Die nationalistische Partei von Georgievski kam nur noch auf 27,7 Prozent der Stimmen, wie die Zentrale Wahlkommission am Montag in Skopje mitteilte. Die Demokratische Union für Integration (BDI) des früheren Rebellenführers Ali Ahmeti wird mit 5,9 Prozent stärkste politischen Kraft der albanischen Minderheit im neuen Abgeordnetenhaus. Die bisher mitregierende Demokratische Partei der Albaner (DPA) erreichte nur noch drei Prozent der Stimmen.


Georgievskis nationalistische Partei VMRO-DPMNE kann allenfalls noch auf 34 der 120 Mandate des Parlaments in Skopje hoffen, dagegen darf Crvenkovskis buntes Parteienbündnis »Gemeinsam für Mazedonien« mit mehr als der Hälfte der Parlamentssitze rechnen. Das Bündnis vereinigt neben den Sozialdemokraten, die bereits von 1992 bis 1998 regierten, acht kleinere Parteien, darunter die Liberaldemokraten sowie Parteien der türkischen, der serbischen und der vlachischen Volksgruppe sowie der Roma. Ein vorläufiges Endergebnis des Urnengangs am Sonntag sollte erst am Montagabend bekannt gegeben werden. Im albanischen Parteienspektrum heißt der große Sieger jedenfalls Ali Ahmeti. Er hat seinen Wandel vom Führer der »Befreiungsarmee« UCK im letztjährigen Bürgerkrieg zum Parteichef offensichtlich erfolgreich absolviert. Insgesamt wohl 13 Sitze wird seine Demokratische Union für Integration (BDI) im Parlament besetzen können. Die bisher abwechselnd an der Regierung beteiligten albanischen Gruppierungen – die Partei für Demokratische Prosperität (PDP) und die Demokratische Partei der Albaner (DPA) – wurden dagegen faktisch in die Bedeutungslosigkeit gewählt: Beide gemeinsam werden wahrscheinlich nicht mehr als sechs oder sieben Sitze erhalten. Dabei hatten gerade sie sich im Wahlkampf einer möglichst nationalistischen Rhetorik bedient, um einen Sieg des kampferprobten Ahmeti zu vereiteln. Vergebens, wie sich nun herausstellt. DPA-Chef Arben Xhaferi kuschelte sich wenige Stunden nach Vorliegen der Hochrechnungen bei Ahmeti an und bot ihm seine Zusammenarbeit an. Obwohl das Bündnis »Gemeinsam für Mazedonien« die Mehrheit der Mandate errungen hat, wird es aller Voraussicht nach zu einer Regierungsbeteiligung der Ahmeti-Partei kommen. »Aus kosmetischen Gründen muss man eine albanische Partei beteiligen«, sagte OSZE-Sprecher Harald Schenker gegenüber ND. Aber nicht nur kosmetische Gründe sind es, die eine Koalition mit Ahmetis BDI ratsam erscheinen lassen: Seit dem im August letzten Jahres zwischen slawischen und albanischen Parteien geschlossenen Abkommen von Ohrid haben die Albaner im Parlament ein großzügiges Mitspracherecht: Alle Gesetze, die auch die albanische Volksgruppe des Landes betreffen, müssen unabhängig von den üblichen Mehrheitsverhältnissen von mindestens 50 Prozent der albanischen Volksvertreter abgesegnet werden. Also wäre es für den künftigen Premier Crvenkovski politisch angeraten, die starke Ahmeti-Partei an der Regierung zu beteiligen, um einen Hürdenlauf im Parlament zu verhindern. Der ehemalige UCK-Chef selbst aber wird nach derzeitiger politischer Gemengelage höchstwahrscheinlich nicht in den Genuss eines Ministeramtes kommen: Crvenkovski hat vor den Wahlen zwar eine Koalition mit der BDI nicht ausgeschlossen, wohl aber einen Karrieresprung für deren Führer. Das »Modell Haider« wird also vielleicht bald nach Mazedonien exportiert: Der Parteichef eines Koalitionspartners wird vorerst Parteichef bleiben, die Ministerämter aber bekleiden andere. Aus polit-hygienischen Gründen: Ahmeti ist unter der slawischen Bevölkerungsmehrheit geächtet. Immerhin steht er im Verdacht, in seiner Zeit als Guerillachef auch Menschenrechtsverletzungen gröbsten Ausmaßes begangen zu haben. Die UCK selbst dürfte damit vorerst zufrieden sein: »Die wollten einen Erfolg für Ahmeti, damit der endlich ins politische Establishment aufsteigen kann. Das haben sie erreicht«, sagte ein Wahlbeobachter. Jetzt ist es Aufgabe des künftigen Premiers Crvenkovski, die Ahmeti-Partei zu domestizieren. Leicht wird das nicht. »Bis auf drei oder vier in der Führung sind die Ahmeti-Parteigänger politisch völlig unerfahren. Die müssen erst zu Politikern werden«, glaubt OSZE-Sprecher Schenker. Die Gefahr eines weiteren Auseinanderdriftens der beiden Volksgruppen aber wäre vorerst gebannt: Schließlich hat es die UCK geschafft, den Schützengraben gegen die Regierungsbank zu tauschen.
(Neues Deutschland, 17.09.2002)

Gemma Pörzgen kommentierte die Wahlen für die Frankfurter Rundschau u.a.:

... Die nationalistische Regierung unter Ljubco Georgievski wurde in aller Deutlichkeit abgestraft. Slawische und albanische Mazedonier entzogen der bisherigen Führung, an der auch die Demokratische Partei der Albaner beteiligt war, gleichermaßen ihr Vertrauen. Sie setzen auf einen Neuanfang für ihr Land, das noch vor einem Jahr am Rande des Bürgerkriegs stand.
Der friedliche Wahlverlauf belohnt das internationale Engagement des vergangenen Jahres. Er zeigt, dass der frühzeitige Ausweg aus der Spirale der Gewalt möglich ist und das im August 2001 vermittelte Friedensabkommen von Ohrid den richtigen Weg weist. Europäische Union, Nato und OSZE haben in Mazedonien eine gute Zusammenarbeit entwickelt, die aus den in Bosnien und Kosovo gemachten Fehlern ihre Lehren zieht.
Nun muss sich die mazedonische Politik bewähren. Mit dem Eingeständnis seiner Wahlniederlage hat Georgievski einen ermutigenden Schritt getan und die Macht wie ein echter Demokrat abgegeben. Nun liegt es am Wahlsieger Branko Crvenkovski, die Erwartungen nicht zu enttäuschen. Es wird nicht einfach, ein Regierungsbündnis zu schmieden, das die stärkste albanische Partei des früheren Rebellenchefs Ali Ahmeti einbindet, ohne den Rückhalt slawischer Mazedonier gleich zu verspielen. ...
(Frankfurter Rundschau, 17.09.2002)

Die Süddeutsche Zeitung brachte ein Profil des Wahlsiegers von Bernhard Küppers. Auszüge:

Mit einem triumphalen Wahlsieg kehrt nach vier Jahren in Mazedonien der Ex-Kommunist und Sozialdemokrat Branko Crvenkovski zurück an die Macht. ...
Crvenkovski, der schon von 1992 bis 1998 als Premierminister amtierte, könnte numerisch die Regierung auch alleine bilden, wenn sich die absolute Mehrheit der Wahlkoalition seines Bunds der Sozialdemokraten Mazedoniens (SDSM) mit einigen Minderheitenparteien bestätigt. Nicht weniger triumphal war jedoch im albanischen Bevölkerungsdrittel der Wahlsieg des früheren Führers der Nationalen Befreiungsarmee (UCK), Ali Ahmeti. Er hat sich damit demokratisch legitimiert und bietet sich als Koalitionspartner an. Dies jedoch stellt den künftigen Premier vor einige Probleme.
Sein Gegner Georgievski hatte im Wahlkampf für den Fall seiner Niederlage ein Regierungsbündnis zwischen sozialdemokratischen „Verrätern“ und „Terroristen“ aus Ahmetis Partei der Demokratischen Bewegung für Integration (BDI) an die Wand gemalt. Und Crvenkovski selbst hatte mit Rücksicht auf die Gefühle der slawischen Bevölkerungsmehrheit ein Regierungsbündnis mit Ahmeti ausgeschlossen. Nun aber kann er im Interesse einer Stabilisierung des Landes schwerlich anders, als die Partei Ahmetis einzubinden – zumal jener sich betont staatstragend für eine Versöhnung und die euro-atlantische Integration ausspricht. Crvenkovski wird also mit Hilfe der internationalen Vertreter in Skopje ein Arrangement finden müssen. Ahmeti könnte sich dabei mit der Rolle des albanischen Parteiführers begnügen.
Crvenkovski kam bei der Wahl zugute, dass ihm – anders als Georgievski – keine persönliche Bereicherung vorgeworfen wird. ... Nun wird der Machtwechsel gewiss auch Interessen des organisierten Verbrechens berühren, das unter der alten Regierung ohne Ansehen der ethnischen Zugehörigkeit mit den Staatsstrukturen verwachsen war.
Crvenkovski wurde am 12.Oktober1962 als Sohn eines jugoslawischen Offiziers in Sarajewo geboren und studierte in Skopje Computerwesen. Parteivorsitzender wurde er 1991, als sich die mazedonische KP in den Bund der Sozialdemokraten (SDSM) umwandelte. Ein Jahr später machte ihn der Vater der Unabhängigkeit, Alt-Präsidenten Kiro Gligorov, zum jüngsten Regierungschef Europas. Auf die alte Erfahrung kann der junge Premierminister nun zurückgreifen.
(Süddeutsche Zeitung, 17.09.2002)

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung mag sich in der Beurteilung der Zukunftsaussichten Mazedoniens nicht so recht festlegen:

Eineinhalb Jahre ist es erst her, daß die albanische "Nationale Befreiungsarmee" (UÇK) in Mazedonien zu den Waffen griff und den Staat an den Rand eines Bürgerkrieges brachte. ...
Wer nun in Skopje regieren wird, kann das in der kommenden Legislaturperiode nicht gegen Ahmetis Partei tun, die jetzt "Demokratische Union für Integration" (BDI) heißt. Zwar hat der Wahlsieger auf der slawisch-mazedonischen Seite des das Land durchziehenden "ethnischen Grabens", der Sozialdemokratische Bund (SDSM), aller Voraussicht nach die absolute Mehrheit der Parlamentssitze gewonnen und wird nicht auf einen Koalitionspartner angewiesen sein. Doch weil im Ohrider Abkommen festgelegt ist, daß alle die Minderheiten betreffenden Gesetze nur nach Zustimmung der Mehrheit albanischer Abgeordneter gültig werden, käme eine gegen Ahmeti gerichtete Regierung kaum voran. ... Ahmeti und die mit ihm in die Politik gewechselten UÇK-Kämpfer werden erst beweisen müssen, daß sie auch regieren können und daß sie den langen Atem haben, der im politischen Alltag nötig ist. ...
Das Konfliktjahr 2001 ist Mazedonien politisch und wirtschaftlich verlorengegangen. Die pragmatische Regierung in Serbien, das Engagement der Staatengemeinschaft beim Aufbau einer demokratisch und wirtschaftlich sich selbst tragenden Gesellschaft im Kosovo, selbst die neue Einigkeit der beiden großen Parteien in Albanien geben ein Tempo bei der Entwicklung in der Region vor, dem Mazedonien bisher nicht gewachsen ist.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.09.2002)

Die junge Welt spricht von einem "Pyrrhussieg":

Wegen katastrophaler Wirtschaftsdaten, verbunden mit einem sozialen Desaster, sowie Korruptionsvorwürfen ist der Sozialdemokratische Bund Mazedoniens (SDSM) unter Premier Branko Crvenovski 1998 abgewählt worden. Aus den gleichen Gründen wurde ihm vier Jahre später wieder die Regierungsverantwortung anvertraut. Denn nun firmierten die wirtschaftlichen, sozialen und sittlichen Verwerfungen unter der Bezeichnung VMRO-DPMNE, die als antiosmanische soziale Aufstandsbewegung entstanden und zum Tarnmantel der bürgerlichen Reaktion geworden ist.
Der rechtsbürgerliche Block hat für seine Wahlniederlage vorgesorgt und den letzten Rest der verstaatlichten Industrie an seine Kader veräußert. An der oligarchischen Bourgeoisie werden auch die Sozialdemokraten, die während ihrer ersten Regierungsperiode die Wende zur Privatisierung des Volkseigentums eingeleitet haben, nicht vorbeiregieren können. Wahlsieger Branko Crvenovski wird den neoliberalen Auftrag zur Entbürokratisierung des bürokratischen Kapitalismus nicht einlösen können, weil dessen Genesis mit dem Neoliberalismus verbunden ist. Und deshalb dürfte auch der sozialdemokratische Handlungsspielraum bei der Bewältigung der sozialen Misere – mit 40 Prozent Arbeitslosen hält Mazedonien den Europarekord – gleich Null sein.
Den Sozialdemokraten wird es auch nicht erspart bleiben, mit der bewaffneten albanischen Sezession zu koalieren. Denn die UCK unter Ali Ahmeti hat auf ihrem Terrain einen überwältigenden Wahlerfolg verbucht. Statt einer Regierung der nationalen Einheit entsteht in Skopje eine Regierung des nationalen Haders bzw. der nationalen Doppelherrschaft. An deren Ende könnte das Ende der territorialen Integrität Mazedoniens stehen.
(junge Welt, 17.09.2002)


Zurück zur Makedonien-Seite

Zurück zur Seite "Regionen"

Zurück zur Homepage