Mazedonien vor den Wahlen
"Kampf um die Honigtöpfe" - "'Essential Harvest' war eine rein symbolische Übung"
Unter dem Titel "Mazedonien: Gerangel vor den Wahlen - Kampf um die Honigtöpfe" veröffentlichte die Schweizer Wochenzeitung WoZ eine Lagebeurteilung des Landes, das vor einem Jahr Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen war. Wir dokumentieren Auszüge des Artikels von Jean-Arnault Dérens.
Von Jean-Arnault Dérens
... Faton Sherifi, ein etwa vierzigjähriger Albaner, ist
aktives Mitglied der
Demokratischen Partei der Albaner (DPA). Die DPA ist
die wichtigste
politische Gruppierung der albanischen
MazedonierInnen. 1998 war die
DPA mit der rechtsnationalen slawisch-mazedonischen
Partei
VMRO-DPMNE eine Koalition eingegangen, was sich mit
einträglichen
Posten bezahlt machte. Faton Sherifi wurde auf diese
Weise zum
Marketingdirektor des grossen Skizentrums Popova
Sapka, das unweit der
Gipfel der Sar Planina liegt, die die
westmazedonische Stadt Tetovo vom
Kosovo trennen.
Die letztjährigen bewaffneten Auseinandersetzungen
zwischen albanischen
Freischärlern und Regierungskräften in Tetovo haben
Faton Sherifi auf
Kurzarbeit gesetzt. «Zu Beginn der Kämpfe, am 23.
März 2001, waren die
Hotels voll. Wir mussten sie innerhalb von wenigen
Tagen räumen.»
Siebzehn Monate später ist das Gebiet nach wie vor
von Armee und
Polizei besetzt. «Sie haben die Hotels geplündert
und verwüstet. Ihre
Anwesenheit ergibt strategisch überhaupt keinen
Sinn, aber der
Innenminister will weiterhin Druck machen und den
Eindruck erwecken,
dass die Sicherheitskräfte die Situation unter
Kontrolle haben», so Sherifi.
Die auf den 15. September angesetzten
Parlamentswahlen sollen den
politischen Prozess, der im Friedensabkommen von
Ohrid im August 2001
festgelegt wurde, vollenden. Doch die albanische
Gemeinschaft, deren
staatliche Rolle durch das Abkommen gestärkt werden
soll, ist gespalten
und erlebt gewalttätige Konflikte zwischen den alten
politischen
Formationen und einer neuen Partei. Mit der Gründung
der
Demokratischen Union für Integration (DUI) hat der
frühere Chef der
«nationalen Befreiungsarmee» UCK, Ali Ahmeti, die
Führungsrolle der
DPA infrage gestellt. Mit einer Kampagne, die sich
den Kampf gegen Mafia
und Korruption auf die Fahne geschrieben hat, zielt
Ahmetis Partei
hauptsächlich auf Menduh Thaci, die Nummer zwei der
DPA. Dem reichen
und mächtigen Thaci werden eine ganze Reihe
illegaler Geschäfte
nachgesagt. Der offene Krieg zwischen der DPA und
den ehemaligen
«Befreiungskämpfern» brach im vergangenen Mai aus,
als Unbekannte das
Stammcafé von Thaci unter Beschuss nahmen, das
regelmässig als
Versammlungsort für DPA-Kader diente. ...
Politisch hat die DPA nichts anderes anzubieten als
eine Erneuerung ihrer
Koalition mit der nationalistischen VMRO-DPMNE –
eine Option, die von
vielen AlbanerInnen abgelehnt wird. Umgekehrt halten
sich die ehemaligen
Freischärler in der Frage möglicher Bündnisse nach
den Wahlen bedeckt.
Grundsätzlich zwingt die ethnische Zusammensetzung
des Landes (rund
65 Prozent slawische und rund 25 Prozent albanische
MazedonierInnen)
die wichtigsten politischen Kräfte der Mehrheit und
der Minderheit zu
Allianzen. Auch die sozialdemokratische
slawisch-mazedonische
Opposition SDSM schweigt sich über mögliche
Bündnisse aus, die sie im
Falle eines Wahlsieges eingehen könnte.
Ali Ahmeti werde in den mazedonischen Medien
diabolisiert, sagt Borjan
Jovanovski, ein Journalist aus der Hauptstadt
Skopje. «Der frühere
UCK-Chef spricht heute in gemässigteren Tönen als
andere und legt mehr
Gewicht auf die europäische Integration des Landes
als auf spezifische
Forderungen der Albaner. Er begnügt sich damit, die
vollständige
Umsetzung des Abkommens von Ohrid zu fordern. Im
Gegenzug
radikalisiert sich die DPA, um in der Gunst der
albanischen Wählerschaft
wieder zu steigen.»
Verlieren die Koalitionspartner VMRO-DPMNE und DPA
die Wahlen,
haben sie tatsächlich einiges zu befürchten. Eine
Wahlschlappe könnte
das Ende der einträglichen illegalen Geschäfte
bedeuten, in die die Chefs
der beiden Parteien offenbar verwickelt sind. Einige
der
slawisch-mazedonischen Falken, insbesondere der
Innenminister, könnten
ins Visier des Internationalen Strafgerichtshofes in
Den Haag geraten. ...
Die «internationale Gemeinschaft» hat sich in der
Zwischenzeit in
Mazedonien zu einem ausserordentlich wichtigen
Machtfaktor entwickelt.
Der Repräsentant der EU, der Franzose Alain Le Roy,
spielt die Rolle
eines veritablen Gouverneurs, ohne diesen Titel
offiziell zu tragen. Das
internationale Engagement, insbesondere im Bereich
des Wiederaufbaus,
wird in Mazedonien zweifellos zunehmen, falls die
Wahlen ohne grössere
Zwischenfälle über die Bühne gehen.
Wer aber im heutigen Mazedonien über Krieg und
Frieden entscheidet und
die Fäden in der Hand hat, weiss niemand so genau.
Die gross
angekündigte Entwaffnung der UCK im August und
September letzten
Jahres durch Nato-Truppen («Essential Harvest») war
eine rein
symbolische Übung. Radikale albanische Gruppierungen
könnten auch
heute noch versucht sein, Provokationen zu starten,
vielleicht sogar mit
dem Segen von Teilen der DPA und der VMRO-DPMNE. Auf
slawisch-mazedonischer Seite sind die
paramilitärischen Gruppierungen,
die während den letztjährigen Kämpfen auftauchten,
nicht alle entwaffnet.
Sogar diejenigen paramilitärischen Gruppen, die in
die Polizei integriert
wurden (wie etwa die «mazedonischen Löwen»), haben
sich eine grosse
Bewegungsfreiheit bewahren können. Sie sind eng mit
der VMRO-DPMNE
verbunden und werden eine Niederlage ihrer Partei
nur ungern akzeptieren. ...
Aus: Wochenzeitung, 22. August 2002
Zurück zur Mazedonien-Seite
Zurück zur Homepage