Mazedoniens Nationalitätenkonflikt ungelöst
Tödliche Schüsse in Brodec: Albaner und Mazedonier bezichtigen einander der Provokation
Von Ruth Reichstein, Brodec *
Wenige Tage vor den Wahlen in Kosovo destabilisiert ein Zwischenfall auch das benachbarte Mazedonien. Albaner werfen den mazedonischen Sicherheitskräften vor, bei einem Angriff Zivilisten getötet zu haben.
Die Fenster der Moschee von Brodec sind zersplittert. In der Hauswand klaffen drei kreisrunde
Einschusslöcher. Männer ziehen in kleinen Gruppen an der Moschee vorbei zur Mitte des Dorfes,
das an der Nordgrenze Mazedoniens liegt, nur wenige Kilometer von Kosovo entfernt. Sie kommen
zur Beerdigung Ferrat Shahinis und Fisnik Ahmetis. Die beiden jungen Albaner wurden in der
vergangenen Woche von der mazedonischen Polizei erschossen. Das ganze Dorf trägt Trauer, und
im Land wächst die Angst vor neuen Unruhen zwischen Mazedoniern und Albanern.
Es heißt, die Sicherheitskräfte seien auf der Suche nach einer Gruppe Krimineller gewesen, die aus
einem Gefängnis in Kosovo geflohen waren und in dem Dorf Zuflucht gefunden hatten. Insgesamt
wurden sechs Menschen getötet, 13 teilweise verletzt und verhaftet.
Seither hängt die Stabilität Mazedoniens wieder einmal am seidenen Faden. Denn hier prallen zwei
Realitäten aufeinander – die slawisch-mazedonische und die albanische. Etwa ein Drittel der zwei
Millionen Einwohner des Landes sind Albaner. Mit solchen Auseinandersetzungen wie in Brodec
hatte 2001 der Krieg zwischen der mazedonischen Polizei und bewaffneten Albanern begonnen, die
sich damals in der UCK organisierten.
Nur wenige Tage vor den Parlamentswahlen im benachbarten Kosovo am Sonnabend bricht der
Konflikt wieder auf. »Die Waffen, die wir in dem Dorf gefunden haben, sind eindeutig Waffen, um
Attentate auf Städte und Institutionen zu verüben«, sagt Mazedoniens Innenministerin Gordana
Jankulovska. Sie glaubt an eine Provokation der Albaner aus Kosovo und dem eigenen Land, die
Mazedonien schwächen soll. »Unsere Polizei hat perfekt gehandelt. Es gab keine zivilen Opfer und
keine nennenswerten Schäden«, sagt die gerade 28-jährige Ministerin. Die Getöteten bezeichnet sie
als »Terroristen«.
Ein alter Mann steht vor den Resten seines Hauses. Es ist bis auf die Mauern niedergebrannt. »Sie
haben mit einem Panzer von einem gegenüberliegenden Hügel geschossen. Wir konnten nur um
unser Leben laufen«, erzählt der Besitzer. Mit Kriminellen habe er nichts zu tun, versichert er.
Hunderte Polizisten seien in das Dorf eingefallen. »Sie haben auf Unschuldige geschossen und
harmlose Dorfbewohner verhaftet«, sagt Chemsidin Selimi. Die Schüsse hätten ihn und seine 15-
köpfige Familie im Schlaf überrascht. »Als Rettung blieb nur der Keller.« Selimi ist Sprecher des
Notrates, den das Dorf kurzerhand eingerichtet hat. Die Botschaft der Bewohner ist klar: »Wir sind
ein friedliches Dorf. Bei uns gibt es keine Kriminellen. Die Verhafteten haben hier im Café gesessen.
Es waren ganz normale Leute.« Ob sie wieder zu den Waffen greifen wollen, um sich zu verteidigen,
will Selimi nicht sagen. »Wir wollen eine Entschädigung dafür, was uns die Mazedonier angetan
haben.«
Ein paar Kilometer weiter, in der Universitätsstadt Tetovo, hat Ali Ahmeti sein Hauptquartier. Der
ehemalige UCK-Chef ist heute Vorsitzender der oppositionellen albanischen Demokratischen Union
für Integration (DUI). 70 Prozent der Bewohner von Brodec wählen Ahmetis DUI. »Der Polizeieinsatz
ist eine Provokation für die Albaner in Mazedonien. Sie wollen uns einschüchtern, uns ruhigstellen«,
sagt der Politiker. Er wünsche sich den Krieg nicht zurück, aber die Situation der Albaner in
Mazedonien sei schlechter als noch vor einigen Jahren. »In der öffentlichen Verwaltung und in der
Polizei arbeiten zu wenig Albaner. Die Gesetze werden nur in mazedonischer Sprache
veröffentlicht«, klagt er. Unlängst verbot das mazedonische Verfassungsgericht, die albanische
Flagge aufzuhängen, zum Beispiel in Rathäusern von Gemeinden, in denen mehrheitlich Albaner
wohnen.
In Brodec weht keine Flagge – weder die albanische noch die mazedonische. Chemsedin Selimi
sagt: »Wir sind Albaner. Wir leben in Mazedonien. Das passt doch zusammen. Wir wollen einfach
nur unsere Ruhe haben.«
Zu Wort gemeldet hat sich allerdings auch die Albanische Natio-nalarmee (ANA), der bewaffnete
Arm der Albanischen Nationalen Vereinigungsfront (ANVF). Ihre »Brüder« hätten sich sehr wohl in
Brodec versteckt, heißt es in der Internet-Mitteilung. Bewaffnet seien sie auch gewesen, freilich nur
zum Selbstschutz und nicht, um Anschläge in und gegen Mazedonien zu verüben. Derzeit gebe es
nur ein Ziel: Kosovos Unabhängigkeit. Mazedonien sei freilich ein »künstlicher Staat«. Und die
ANVF-Führer haben sich geschworen »bis zum letzten Atemzug für eine albanische
Wiedervereinigung in einem einzigen nationalen Staat auf dem Balkan mit dem Namen Albanien« zu
arbeiten und zu kämpfen.
* Aus: Neues Deutschland, 15. November 2007
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