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Deutsche Unschuld

Eine Analyse der deutschen Makedonienpolitik

Von Matthias Küntzel

Zufällig war mein Radio eingeschaltet, als kürzlich der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, in einem Interview zur Perspektive Mazedoniens und des Kosovo Stellung nahm. ,,Gibt es so etwas wie Strategie und Konzept?„, erkundigte sich der Moderator des Morgenmagazins. Die Antwort des SPD-Politikers war bemerkenswert. In Anbetracht des ,,albanischen Strebens nach Separation in Mazedonien und im Kosovo„ müsse man ,,nach der Zukunft der Grenzen in dieser Region (fragen), ob sie eigentlich für uns unantastbar sind, oder ob man bereit wäre, diese zum großen Teil ja willkürlich gezogenen Grenzen in irgendeiner Weise, natürlich nach einem entsprechenden politischen Prozeß, zu verändern.„

Schon der Inhalt dieser Worte bietet Zündstoff genug. Wer Grenzen infragestellen und Staaten zerteilen will, schafft Präzedenzfälle und nimmt Kriege in Kauf. Man stelle sich vor, Erler hätte so über die Revision der „willkürlich gezogenen„ deutsch-polnischen Grenze oder über „das Streben nach Separation„ der in der Türkei lebenden Kurden parliert. Mehr noch als der Inhalt erstaunte mich der nonchalante Gestus, mit welchem Gernot Erler das territoriale Programm der UCK in die Sprache des durchschnittlichen Deutschlandfunk-Zuhö-rers übertrug, sowie die Selbstverständlichkeit, mit der der Rundfunk-Moderator dem Revisionismus Erlers beipflichtete und zur Tagesordnung überging.

Diese „Selbstverständlichkeit„ ist das Rätsel und das Problem, vor dem jeder Kritiker der deutschen Kosovo-Politik steht. Selbstverständlich wird im Englischen mit it goes without saying und im Französischen mit cela va sans dire umschrieben, und eben so scheint die deutsche Öffentlichkeit zu funktionieren: Wird nicht jeder noch so provokante Vorstoß der deutschen Außenpolitik im stillschweigenden Einverständnis verteidigt und unterstützt? Offenkundig konnte Erler, als er die Neuordnung des Balkans empfahl, spezifische Gedankenformen im Bewußtsein seiner Zuhörer voraussetzen – Gedankenformen, die untrennbar mit der rot-grünen Verantwortung für den „antifaschistisch„ begründeten NATO-Krieg gegen Jugoslawien verbunden sind.

Eines der wichtigsten dieser Selbstverständlichkeits-Konstrukte lautet: „Es ging nicht anders.„ Ob rückblickend Rudolf Scharpings Kriegsrhetorik und Joseph Fischers Hufeisenplan gerügt werden oder nicht: An der Prämisse, daß es zur Bombardierung Jugoslawiens letztlich keine Alternative gegeben habe, hält man fest. Warum muß jeder Anflug von Zweifel und die Ahnung, daß ausgerechnet unsere „Regierungslinke„ an einem Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein könnte, tabuisiert und aus dem Bewußtsein gedrängt werden? Weil jede andere Sicht auf diesen Krieg Konsequenzen zeitigen müßte, die nur eine verschwindend kleine Minderheit zu tragen bereit ist: nicht nur den individuellen Bruch mit Rot-Grün, sondern das grundsätzliche Infragestellen all dessen, auf das man in Deutschland stolz sein und stolz bleiben will: Lernfähigkeit aus der Geschichte, Friedenswille und demokratisierte Öffentlichkeit, um nur einige Topoi zu nennen. Die Rationalisierungen, die für das „Es ging nicht anders„ nachgeschoben werden, sind demgegenüber zweitrangig und widersprechen sich oft selbst. So wird für die deutsche Kriegsbeteiligung sowohl der angebliche Völkermord eines Milosevic wie auch das angebliche Agieren der USA, die die „Submacht„ Deutschland in diesen Krieg hineingezwungen hätten, verantwortlich gemacht und eine eigenständige deutsche Rolle bei der Anbahnung dieses Krieges a priori dementiert.

Ganz von selbst funktioniert auch der anti-slawische Affekt, der sich am Beispiel des Kosovo als a priori-Sympathie für die albanische Sache manifestiert. Auch wer wenig von der Region weiß oder wissen will, hegt doch wenigstens daran keinen Zweifel, daß den albanisch-sprachigen Jugoslawen ein unabhängiges Kosovo so schnell wie möglich zuzugestehen sei. Als Fischer auf dem Höhepunkt der ersten Mazedonien-Krise die „albanische Frage„ für „offen„ erklärte, löste dieser Vorstoß hierzulande weder Irritation, noch Protest aus.

Das wichtigste „Es-versteht-sich-von-selbst„-Konstrukt hat jedoch mit dem Verhältnis zum Nationalsozialismus zu tun: Die Gewißheit, daß im Kosovo zwischen alter Nazi-Politik und neuer deutscher Intervention nicht ein Spurenelement an Kontinuität besteht, ist Kernbestand der neudeutschen Identität. Oder gilt etwa nicht als selbstverständlich, daß die im Kosovo stationierten deutschen Soldaten dazu beitragen, „historische Schuld und historisches Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden, durch ein anderes Bild Deutschlands zu ersetzen„, wie Bundeskanzler Schröder stolz erklärte? Doch schon der logische Defekt der Schröderschen Formulierung (können Bilder Verbrechen „ersetzen„?) deutet die Bemühtheit dieser Prämisse an. Noch augenfälliger ist der Umstand, daß sich die deutsche Öffentlichkeit in ein geradezu ohrenbetäubendes Schweigen hüllt, wenn es um die nationalsozialistische Herrschaft im Kosovo geht. Warum wurde über die kosovo-albanische SS-Division „Skanderbeg„ bis heute kein Film gedreht und kein Essay verfaßt? Warum ist über die NS-Herrschaft im Kosovo so gut wie nichts bekannt? Weil zwar kein Schlußstrich unter die Befassung mit der Vergangenheit gezogen wurde, eine Befassung mit der Vergangenheit unter dem Aspekt der Kontinuität jedoch strikt tabuiert ist.

Täglich strahlt der in Prizren betriebene deutsche Soldatensender „Radio Andernach„ in präziser Nachahmung eines zwischen 1941 und 1944 vom deutschen Sender „Radio Belgrad„ gepflegten Rituals zum allabendlichen Programmschluß den Wehrmachtsschlager „Lili Marleen„ aus – wo einstmals ein Zentrum der Nazi-Kollaboration gewesen ist, können sich die Deutschen das erlauben. Doch gänzlich unpassend ist diese Musikauswahl nicht: Zur alten Melodie und unter neuer deutscher Fahne wird seit dem Juni 1999 in Prizren der „Säuberungspolitik„ der alten albanischen SS-Division nachgeeifert. Im krassen Gegensatz zu den Beschönigungen der Bundesregierung und ihrer medialen Nachbeter erhielt die UCK in keiner anderen Besatzungszone des Kosovo ein vergleichbar großes Maß an Pogromfreiheit wie in der deutschen.

„In Prizren haben es die deutschen Soldaten den albanischen Kämpfern der Kosovo-Befreiungsarmee überlassen, das in der Stadt geltende Recht zu bestimmen, und damit die serbischen Familien ihrem Schicksal überlassen„, kritisierte der in Paris erscheinende Figaro. Die UCK habe erklärt, Prizren stehe vollständig unter ihrer Kontrolle, bestätigte auch die FAZ. „Selbst das geistliche Oberhaupt der Serben im Kosovo, Bischof Artemije, hatte vergeblich Sicherheitsgarantien vom deutschen Kfor-Kontingent in Prizren erbeten.„ Die beinahe uneingeschränkte Herrschaft der UCK über Prizren wurde niemals in Deutschland, wohl aber von Stellen der Vereinten Nationen kritisiert – folgenlos.

Auf Kritik auch in Berlin stieß das terroristische Agieren der UCK erst im Zusammenhang mit der Mazedonien-Krise. Doch scheint die Politik der stillen Beihilfe für die inzwischen als „Kosovo-Schutz-Korps„ (TMK) getarnte UCK fortgesetzt worden zu sein. „In Prizren weiß jedes Kind, daß die TMK die mazedonische UCK unterstützt„, berichtete kürzlich Die Woche.. „Die meisten Waffen der dortigen Kämpfer kommen aus dem Kosovo. ,Oft sind Kolonnen von bis zu 100 Maultieren unterwegs‘, erläutert Kfor-Mann Löbbering: ,Wenn neben jedem Tier ein Bewacher geht, transportieren die wahrscheinlich Waffen.‘„ – ungehindert, versteht sich. Im deutschen Sektor gebe es „wenig zu lachen„, mokierte sich die Londoner Times, „außer über die Behauptung der Nato, die Grenze für das Kosovo dicht gemacht zu haben. Nachdem ich beobachten konnte, wie Albaner ein halbes Dutzend Mal über die Grenze entkommen sind, erscheint die Vorstellung, daß deutsche Soldaten im Kosovo die Grenze dichtmachen, weit hergeholt.„

Als Außenminister Fischer Anfang April in Pristina mit dem ehemaligen UCK-Chef (und heutigem TMK-Kommandeur) Agim Ceku konferierte, war stets auch die Abtrennung des Kosovo von Jugoslawien und dessen Unabhängigkeit mit im Gespräch. Im Prinzip scheint der deutsche Vizekanzler diesen Absichten zugestimmt zu haben. Wie sein Adlatus Winfried Nachtwei, Bundestagsabgeordneter der Grünen, in einem Reisebericht bekundet, habe man „die kosovo-albanischen Politiker zu mehr Geduld und Vernunft in ihrem Unabhängigkeitsbestreben gedrängt.„

Erinnert nicht diese Ermunterung zum Unabhängigkeitskampf an die eingangs zitierte Plauderei von Gernot Erler, der mit größter Selbstverständlichkeit die „willkürlich gezogenen Grenzen„ Jugoslawiens und vielleicht auch die Mazedoniens verändern will? Und doch ist angesichts der internationalen Widerstände gegen jede Grenzrevision die Politik der Bundesregierung doppelbödig angelegt: Während man sich nach außen mit allzu forschen Unabhängigkeits-Postulaten nicht den Mund verbrennen will, wird unterschwellig auf die Verschiebung der Grenzen und eine territoriale Beantwortung der „albanischen Frage„ hingewirkt – gestützt auf eine Öffentlichkeit in Deutschland, der dieser provokante und eigensinnige Kurs als pure Selbstverständlichkeit erscheint. Doch die eingangs genannten Selbstverständlichkeiten sind fiktionale Gebilde: Der durch die UCK provozierte NATO-Krieg war keineswegs unvermeidbar, die deutsche Rolle bei seiner Anbahnung zentral, die Veränderung der Grenzen nach UCK-Gusto durchaus nicht selbstverständlich und die dahinterstehende außenpolitische Strategie an spezifischen Mustern der Nazi-Periode orientiert.

Als die UCK 1999 die letzte jüdische Gemeinde aus Pristina vetrieb, rief im britischen Unterhaus die Abgeordnete Alice Mahon aus. „Can honored Members believe that, in this day and age...?„ Doch im Unterschied zu Großbritannien war und ist das in Deutschland kein Thema. Obwohl die Kontinuitätslinie offensichtlich ist? Nein: gerade deswegen. Je näher die deutsche Außenpolitik der Leiche im eigenen Keller kommt, desto wirkungsvoller muß der Blick auf sie verwehrt, die Erkenntnis blockiert werden. Geschichte freilich kehrt, je heftiger sie abgewiesen wird, desto traumwandlerischer zurück.

Dieser Kontext war präsent, als Gernot Erler die Verschiebung der balkanischen Grenzen empfahl. Wie im Selbstlauf knüpft seine a priori-Sympathie für „die Albaner„ und „Großalbanien„ an das historische antiserbische Paradigma an – it goes without saying. Im Gestus taufrischer Unschuld nehmen heutige deutsche Politiker und Kommentatoren Vergangenes wieder auf – als das Selbstverständlichste der Welt.

Aus: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft 14/2001

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