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Nichts wie weg

Litauens Jugend sieht zu Hause wenig Chancen, denn Nationalismus und Russenhass schaffen keine Arbeitsplätze

Von Michael Müller, Vilnius *

Goda und Darius schweben Hand in Hand durch Litauens Hauptstadt Vilnius in den siebten Himmel. Sie 23, er 25. Gerade geheiratet. Wegen der Liebe und auch wegen der Zukunft, sagen sie. Fremdsprachenkorrespondentin und IT-Ingenieur. Doch beide haben seit ihrem Berufsabschluss zwar einen Job, »aber eigentlich keine richtige Arbeit«. Sie ist Aushilfe in einem Supermarkt, er arbeitet in einem Callcenter. Ab Anfang kommenden Jahres soll das neue Glück auf neue Beine gestellt werden. Allerdings nicht in der Heimat, sondern im schottischen Edinburgh. Die beiden machen nämlich das, was Abertausende litauische Jugendliche bereits getan haben: Sie wandern aus.

»Die Abwanderung vor allem junger, meist gut ausgebildeter Leute, ist bei so manchen anderen Gebrechen des modernen Litauens wohl das Schlimmste«, sagt Matas Ciuzauskas, Soziologe an der Universität von Kaunas. Seit 1992 - das Land, früher eine Sowjetrepublik, war 1990 selbstständig geworden - sank die Bevölkerungszahl von 3,7 auf nunmehr 3,1 Millionen. Tendenz: weiter fallend. Allein seit 2005 haben laut offizieller Statistik 230 000 Menschen das Land verlassen. Zudem wird geschätzt, dass rund 250 000 Litauer »inoffiziell im - vor allem westlichen - Ausland« leben und arbeiten.

Bei den Gründen nennt Dr. Ciuzauskas als Erstes die wachsende Jugendarbeitslosigkeit. Innerhalb der letzten drei Jahre stieg sie bei den 20- bis 29-Jährigen laut offizieller Statistik auf 31 Prozent. Zwar liegen die Zahlen noch unter EU-Höchstwerten wie in Spanien oder Griechenland, doch inzwischen auch über denen der Nachbarländer Lettland (26,6 Prozent) und Estland (21,8 Prozent). Laut einer aktuellen Studie des University College London steht Litauen neben Irland an der Spitze der Zunahmen der Selbstmordrate bei jungen Männern.

Dabei galt Litauen lange als der marktwirtschaftliche Musterschüler unter den drei EU-Mitgliedern im Nordosten. Bis dann die geplante Euroeinführung 2007 durch ein Veto der EU-Finanzminister wegen zu hoher Inflationsraten gestoppt wurde. Ein neuer Termin liegt in Brüssel auf Eis. »Doch wer weiß, wo wir heute mit dem Euro stünden. Zum Glück haben wir noch den Litas«, sagt Milda Strikuliene, die im Supermarkt »IKI« (iki - Litauisch für Tschüss) für ein 200-Gramm-Päckchen Varske, den landesüblichen Quark, und zwei Brötchen 7,66 Litai (etwa 2,50 Euro) eintippt. Eher noch etwas teurer als in Deutschland. Und dies aber bei realen Durchschnittseinkommen von nur 1655 Litu »auf die Hand« (rund 530 Euro), vom Netto-Mindestlohn von 880 Litu gar nicht zu reden. Also nicht unbedingt das, was junge Litauer von ihrer Zukunft erwarten dürften.

Derzeit ist auch in Litauen politische Sommerpause. Vor dem Präsidialpalast in Vilnius hält eine Handvoll Demonstranten mit unterschiedlichen Plakaten (»Deckt die politischen Morde auf!«, »Kein Kernkraftwerk in Visaginas!«) mehr oder weniger symbolisch Wache. Doch neben Forderungen gibt es auch viele Fragen. Warum hier im einstigen Elektronikzentrum der UdSSR inzwischen hochtechnologisch Wüste ist, warum der billigste Beutel Kartoffeln aus Gran Canaria und die billigste Milch aus Thüringen kommt? Wie sich »mehr unserer jungen, gut ausgebildeten Spezialisten selbstständig« machen können, so wie ein enger Mitarbeiter des Premierministers laut Tageszeitung »Respublika« empfiehlt, da sich »an der Arbeitsmarktlage für sie in Litauen auch in näherer Zukunft nichts ändern« werde.

Ehrliche und konstruktive Antworten sind da mit Blick auf die Parlamentswahlen am 14. Oktober kaum zu erwarten. Deshalb dürften sich der regierende national-konservative Block, aber auch die sozialdemokratisch geführte Opposition vorzugsweise in andere Themen flüchten. Drei sind da seit dem »Sturz der kommunistischen Herrschaft« 1990 besonders beliebt: Nationalismus, Antikommunismus und Russophobie. Gleiches kennt man ja beispielsweise auch aus einigen der neuen kleinen Staaten Südosteuropas zur Genüge. Und wie dort nimmt das auch in Litauen groteske, peinliche, ja aus dem Blickwinkel jüngerer Geschichte, ganz infame Züge an.

»Immer wieder wird Litauens Bedeutung in der europäischen Geschichte unterschätzt«, meint Museumsführerin Jurate Ripskaite in der Wasserburg von Trakei, knapp eine halbe Autostunde von Vilnius entfernt. »Doch schauen Sie diese gotische Inselburg, die Einzige in Europa!« Damals reichte Litauen »von der Ostsee bis ans Schwarze Meer«. Nämlich nach dem Sieg über den Deutschen Orden 1410 in der Schlacht bei Tannenberg. Zalgiris, der litauische Name von Tannenberg, wird heute als allgemeines Synonym für ein Nonplusultra benutzt. Die beste Basketballmannschaft heißt so, nämlich BC Zalgiris Kaunas, und so nennt man auch einen hochprozentigen Schnaps. Restauriert worden ist diese Wasserburg übrigens jahrzehntelang in der Zeit der Sowjetunion. »Das hat Moskau gemacht, um den Litauern zu demonstrieren, in welcher Pracht ihre Adligen einst so gelebt haben«, gibt die Expertin der jüngeren Geschichte zum Besten. So gehört es übrigens auch zum Kanon des Schulunterrichts. Jüngst wurde ein Autofahrer mit einer Strafe von 500 Litu (etwa 145 Euro) belegt, weil an seinem Nummernschild ein kleines Hammer-und-Sichel-Signum klebte.

»Wir zeigen alle Formen physischen und psychischen Genozides am litauischen Volk durch das Sowjetregime«, erläutert Eugenijus Peikstenis, Direktor des Genozidmuseums im ehemaligen KGB-Gebäude von Vilnius. Was indes nur gestreift wird, ist der Genozid an Litauern während der Nazibesetzung im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Truppen und ihre einheimischen Hilfswilligen. Sie metzelten von den einst 220 000 Litauern jüdischen Glaubens etwa 200 000 hin.

Schauplatz des Nazigenozids in Vilnius war der Stadtteil Paneriai. Erschossen und erschlagen wurden hier fast ein Drittel der Einwohner von Vilnius. Bis zu 70 000 Juden, etwa 20 000 Polen und 6000 Russen sowie zahlreiche Sinti und Roma und Kommunisten. Von einst 100 Synagogen - Napoleon hatte Vilnius das Jerusalem des Nordens genannt - existierte seit Ende des Zweiten Weltkrieges noch eine. Es gibt in der litauischen Öffentlichkeit zur sogenannten Doppel-Genozid-Theorie (nazistische gleich stalinistische Gräuel - d.A.) einen breiten Konsens. In diesem Sinne wäre es logisch, dass der Weg zum bescheidenen Mahnmal für die Opfer des Nazigenozids in Paneriani wenigstens ordentlich ausgeschildert ist.

Auf der »Schwarzen Liste« des Simon-Wiesenthal-Zentrums, das bekanntlich Nazis und Nazikollaborateure verfolgt, steht Litauen unter den Ländern, die eben dies verhindern, an vorderer Stelle - zusammen mit seinen baltischen Nachbarn sowie der Ukraine und Kroatien. Mitglieder der einstigen Litauischen Aktionsfront (LAF), die zuerst unter der Devise »Gegen bolschewistische Handlanger« am Blutbad unter der einheimischen Bevölkerung beteiligt waren, werden gern als die späteren Helden gefeiert. Weil sie nämlich häufig nach dem Einmarsch der Roten Armee bis 1948 als antikommunistische Untergrundkämpfer agierten, dabei verfolgt, erschossen oder deportiert wurden. »Ihr Heldenmut hat die litauische Nation gerettet«, hieß und heißt es in ultranationalistischen Zeitungen wie »Ukininko patarejo« oder »Lietuvos aidas«. Der damalige litauische Präsident Valdas Adamkus nannte den LAF-Führer Kasyz Skirpa deshalb 2008 nicht etwa, wie es aktive litauische Antifaschisten tun, den »Eichmann von Litauen«, sondern eine »durchaus vielschichtige Persönlichkeit«.

Momentan hat Litauen übrigens eine neue Heldin. Ruta Meilutyte, die bei Olympia in London eine Goldmedaille im Schwimmen gewann. Doch genau besehen ist auch diese 15-Jährige bereits eine Emigrantin. Sie lebt mit ihrem Vater und dessen Lebensgefährtin schon seit drei Jahren im südenglischen Plymouth, wo sie - privat finanziert - im Plymouth College zur Olympiasiegerin trainiert wurde. »Die Besten gehen eben weg«, meint Urte Ziemaite, Lehramtsstudentin, die am Flughafen von Vilnius am Infostand jobbt. »Wenn ich so gut schwimmen könnte, würde ich wohl sogar noch vor meinem Master abhauen«, meint sie augenzwinkernd.

* Aus: neues deutschland, Montag, 10. September 2012


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