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Regierungswechsel in Litauen scheint gewiss

Regierungswechsel in Litauen scheint gewiss

Von Thomas Mell, Tallinn *

Litauens Ministerpräsident Andrius Kubilius – darin sind sich die Umfrageinstitute einig – wird nach den Parlamentswahlen, deren erste Runde am Sonntag stattfindet (zweite Runde am 28. Oktober), sein Kabinett räumen müssen. Sein Sparkurs hat die Wähler verprellt.

Keine Chance auf Wiederwahl. Die neuesten Umfragewerte verheißen für die rechtsbürgerliche Regierung nichts Gutes. Ministerpräsident Andrius Kubilius (56) und seine konservative Vaterlandsunion werden mit weniger als 8 Prozent erst an vierter Stelle ihrer Rangliste geführt – nach drei Oppositionsparteien.

Kubilius kann sich zumindest auf die Fahnen schreiben, dass er der erste Ministerpräsident seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens ist, dessen Regierung eine vierjährige Legislaturperiode übersteht. Dabei waren die Rahmenbedingungen schon vor seinem zweiten Amtsantritt (er hatte den Posten schon 1999-2000 inne) höchst ungünstig. Es war im Dezember 2008, drei Monate nach dem Kollaps von Lehman Brothers, der den internationalen Finanzmarkt endgültig vergiftete. Litauen blieb nicht verschont: Exportmärkte brachen weg, günstige Kreditströme trockneten aus, folgerichtig schrumpfte die Wirtschaft 2009 um 15 Prozent. Kubilius setzte auf eine rigide Sparpolitik, erhöhte Steuern und senkte Ausgaben. Seine Befürworter sagen, damit sei der Staatsbankrott vermieden worden. Das Haushaltsdefizit hat sich tatsächlich verringert, die Wirtschaft wuchs 2011 um beachtliche 6 Prozent und auch 2012 Jahr wird Litauen diesbezüglich zur EU-Spitzengruppe gehören.

Doch die Wähler sind der Politik des Gürtel-enger-Schnallens müde. Denn sie spüren deren Kehrseite. Die Arbeitslosenquote ist durch die Krise hochgeschnellt und steht immer noch bei 13 Prozent (bei einem EU-Durschnitt von 10,5 Prozent). Die Litauer verdienen im Schnitt knapp 1700 Litas (etwa 500 Euro) auf die Hand, wobei es deutliche Einkommensunterschiede gibt, etwa zwischen den größeren Städten und dem flachen Land. Einige Alltagskosten, darunter die Lebensmittelpreise, bewegen sich auf deutschem Niveau. Viele junge Menschen haben einen Schlussstrich gezogen und dem Land den Rücken gekehrt. Die beliebtesten Zielländer sind Großbritannien und Irland, die nach der EU-Erweiterung 2004 als erste ihren Arbeitsmarkt öffneten. Die Einwohnerzahl Litauens ist mittlerweile unter die psychologisch wichtige Grenze von drei Millionen gesunken. Der Verlust einer halben Million Menschen in zehn Jahren – das ist ein Schwund in der Größenordnung der Hauptstadt Vilnius. Es überrascht daher wenig, dass die Wählergunst sich derzeit der Opposition zuneigt. Die Spitzenposition nehmen die Sozialdemokraten (18 Prozent) ein, die den harten Sparkurs kritisieren und unter anderem eine Lohnerhöhung für Krankenschwestern, Polizisten und andere öffentlich Bedienstete in Aussicht stellen. Doch deren Spitzenkandidat, Parteichef Algirdas Butkevičius, wird das Haushaltsdefizit kaum vergrößern wollen. Ein Loch in der Staatskasse würde den Euro-Beitritt verzögern. Die Gemeinschaftswährung wollte man ursprünglich schon 2007 einführen, scheiterte jedoch an der hohen Inflation. Dass das Euroschiff mittlerweile an der Südseite stark leckgeschlagen ist, hat sich auch in Vilnius herumgesprochen, doch dort verspricht man sich von der Währungsunion immer noch mehr Vor- als Nachteile. Zwar ist von offizieller Seite nur selten eine konkrete Zeitvorstellung zu hören (bisher war von 2014 die Rede) und Sozialdemokrat Butkevičius mahnt zur Vorsicht, doch ist der Euro für alle wichtigen Parteien immer noch eine Frage des Wann, nicht des Ob.

Weniger sicher scheint ein anderes Unterfangen. Gleichzeitig mit den Urnengang werden die Wähler auch zu einem geplanten Atomkraftwerk befragt. Litauen musste sein einziges AKW vom Typ Tschernobyl nach dem EU-Beitritt abschalten, verlor dadurch aber eine wichtige Energiequelle und wurde von russischen Gas- und Stromlieferungen abhängig. Nun will man am selben Ort für fünf Milliarden Euro einen neuen 1350- Megawatt-Atommeiler errichten. Kritiker, darunter die Sozialdemokraten, halten das Projekt für zu unsicher und zu teuer. Estland und Lettland sollen sich beteiligen, haben aber bisher noch nicht definitiv zugesagt. Das Referendum, das für die Regierung nicht bindend ist, wird wahrscheinlich gegen den Reaktorneubau ausfallen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 13. Oktober 2012


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