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"Sie wollen Mörder als Nationalhelden"

Die litauische Justiz ermittelt gegen einen früheren jüdischen Partisanen, weil er Faschisten beleidigt haben soll. Ein Gespräch mit Joseph Melamed *


Joseph Melamed ist Vorsitzender der Vereinigung litauischer Juden in Israel und lebt in Tel Aviv.

Auf Bitten der litauischen Justiz kamen am Dienstag vergangener Woche israelische Polizisten in Ihr Büro. Was wirft man Ihnen vor?

Die Polizei kam einem Rechtshilfeersuchen des litauischen Staates nach. Ich soll angeblich Nationalhelden verunglimpft haben – und zwar in einer Broschüre, die ich schon 1999 veröffentlicht hatte. Die Polizisten waren sehr freundlich und rieten mir, nicht nach Litauen zu fahren, weil ich dort wahrscheinlich festgenommen würde. Sie wollten von mir wissen, ob ich den Text selbst geschrieben habe, was der Fall ist. Ich habe ihnen das Material gezeigt, das ich habe, und es schien sie zu überzeugen.

Was hat es mit diesen Nationalhelden auf sich?

Ich hatte neun litauische Männer namentlich erwähnt, die am Holocaust beteiligt waren. Ich habe Beweise dafür, daß sie nicht nur einfache Mörder waren, sondern die Morde regelrecht angeführt haben. Einer von ihnen hat zum Beispiel ein Pogrom in einer Stadt nahe Kaunas angeführt. Er hat dem Rabbi den Kopf abgeschlagen und den Kopf auf einer Fensterbank ausgestellt.

Hatten Sie 1999 die litauischen Behörden informiert?

Ja, selbstverständlich habe ich das. Noch bevor ich das Journal herausgegeben hatte, habe ich es dem litauischen Botschafter geschickt. Aber es gab nie eine Reaktion. Und wissen Sie, warum? Das ist sehr einfach – weil damals all diese Leute noch gelebt haben. Gegen die hätte ermittelt werden müssen, aber statt dessen wurde gar nichts unternommen. Erst jetzt, wo sie alle gestorben sind, starten sie eine Untersuchung, und zwar gegen mich.

Wie kommt Litauen dazu, diese Männer als Nationalhelden zu bezeichnen?

Sie sagen natürlich, es sei nicht wahr, daß diese Leute jemanden getötet hätten. Sie behaupten, es seien wunderbare junge Männer gewesen, die für die Freiheit ihres Landes gekämpft hätten. Dabei zeigen die Dokumente im Simon-Wiesenthal-Zentrum bei Yad Vashem das Gegenteil. Die Litauer ehren die Leute, die 1941 mit den Nazis gegen die Rote Armee gekämpft haben, und dafür sind sie anscheinend auch bereit, die Mörder von Juden zu ehren.

Wie kommt das?

Es hat in Litauen Tausende Mörder gegeben. Litauische Truppen haben auch außerhalb des Landes viele Juden getötet. Aber es ist nie einer bestraft worden. Das ist typisch für dieses Land.

Haben Sie persönlich Erfahrungen mit litauischen Kollaborateuren gemacht?

Das nicht, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Ich bin 1943 aus dem Ghetto von Kaunas geflohen und habe mich den Partisanen angeschlossen. Aber ich habe mich als Vorsitzender der Vereinigung der litauischen Juden intensiv mit diesen Vorgängen beschäftigt.

Es ja nicht das erste Mal, daß Litauen gegen ehemalige jüdische Partisanen vorgeht. Vor einigen Jahren wurden mehrere frühere Kämpfer bezichtigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Warum verhält sich Litauen so?

Um vorzuführen, daß nicht nur Litauer getötet haben, sondern auch die Partisanen. Und noch spezieller: daß auch die Juden getötet haben. »Ihr habt Litauer getötet, also haben wir Juden getötet«, das ist die Logik. Dabei haben die Litauer zusammen mit den Deutschen fast 220000 Juden umgebracht. In den Dörfern haben die Deutschen selbst fast nichts unternommen, die Litauer haben die meisten Morde allein begangen, und nur hin und wieder kam ein Deutscher, um nachzusehen und Kommandos zu geben.

Hatten Sie denn vor, nach Litauen zu reisen?

Nein, daran bin ich ohnehin nicht interessiert. Ich habe dort den größten Teil meiner Familie verloren. Und jetzt, wo sie dort wieder Aufmärsche zu Hitlers Geburtstag machen und Hakenkreuze wieder erlaubt sind – ich wäre nicht in der Lage, das auszuhalten.

Was erwarten Sie jetzt von den Behörden?

Ich erwarte gar nichts. Die Litauer wollen diese Leute als Helden ansehen und lassen sich davon nicht abhalten. Ich lasse mich aber nicht abschrecken, die Geschichte des Holocaust gegen ihre Verfälschung zu schützen.

Interview: Frank Brendle

* Aus: junge Welt, 12. September 2011


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