Der Holocaust und Litauens "Weißwäscherei"
Prof. Dovid Katz wirft der Regierung Geschichtsfälschung vor
Die angesehene litauische Tageszeitung »Lietuvos Rytas« stellte dieser Tage fest: »In Litauens staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft wimmelt es von antisemitischen Stimmungen.« Anlass war die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Petras Stankeras, einen ehemaligen Mitarbeiter des litauischen Innenministeriums. Der hatte in einem Aufsatz im Zusammenhang mit dem Nürnberger Prozess über »angeblich« ermordete Juden geschrieben. Der Vorgang bestätige, dass Litauen alles tue, »um in der Welt als judenfeindliches Land zu erscheinen«, kommentierte die Zeitung und fragte: »Ist das etwa das wahre Gesicht Litauens, das zum Club der zivilisierten europäischen Staaten gehört?« Über litauischen Antisemitismus und litauische Geschichtspolitik sprach Frank Brendle für das Neue Deutschland (ND) mit Dovid Katz.
ND: Litauen stehen 2011 zwei Jubiläen bevor: Der Einmarsch der Wehrmacht 1941 jährt sich zum 70. Male, die Anerkennung der Unabhängigkeit von der Sowjetunion zum 20. Male. Sie werfen der litauischen Regierung jedoch Geschichtsfälschung vor. Wird der Holocaust geleugnet?
Katz: Es geht nicht um Leugnung, eher um eine Art Vernebelung des Holocaust. Es gibt hier eine Vorstellung von zwei gleich schlimmen Völkermorden, einem deutschen und einem sowjetischen. Durch die Gleichsetzung von nazistischen und sowjetischen Verbrechen wird der Holocaust systematisch heruntergestuft und erscheint nur noch als eines unter mehreren Verbrechen aus der Periode des Zweiten Weltkrieges.
Noch schlimmer: Es wird hier die Idee vorangetrieben, dass die Sowjets die alleinigen Täter eines »richtigen« Völkermordes waren. Beispiel: Das »Museum der Opfer des Genozids« im Zentrum von Vilnius spricht einzig und allein von sowjetischen Verbrechen, aber nicht über den Völkermord, der tatsächlich stattgefunden hat, nämlich den Holocaust.
Litauens Parlament hat 2011 aber zum Jahr der Erinnerung an den Holocaust erklärt.
Ja, das war im vorigen September, als der Außenminister in New York war und mit großem Getöse verkündete, das Parlament ehre die Holocaust-Überlebenden. Wenige Stunden nach seiner Rückkehr wurde 2011 zum Jahr der »Erinnerung an die Großen Verluste und den Freiheitskampf« erklärt. Die dazugehörige Presseerklärung hat klargestellt, dass es dabei um alles Mögliche geht – außer um den Holocaust. Es geht um die Menschen, die unter Stalin 1940/41 und nach 1945 deportiert worden sind.
Als Freiheitskämpfer gelten hier Litauer, die gegen die sowjetische Besetzung 1941 und nach 1944 kämpften. Was hat es mit denen auf sich?
Gerade die Männer der »Litauischen Aktivistenfront« haben die ersten Etappen des Holocaust ausgeführt. Etliche waren Antisemiten und gehörten zu den Mördern, die nach der Pfeife der Nazis tanzten und mit ihnen kollaboriert haben. Zwischen den Zeilen geht es der litauischen Politik darum, sie zu glorifizieren und Weißwäscherei zu betreiben.
Wie bedrohlich ist der Antisemitismus in Litauen?
Es gibt hier kaum Ablehnung gegenüber Israelis oder amerikanischen Juden. Antisemitismus hier, das heißt: Hass auf die hiesigen Juden. Und das hat viel zu tun mit den familiären und sozialen Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Die hiesigen Juden, eine winzige Gemeinschaft von höchstens 5000 Menschen, begehen in den Augen der baltischen politischen Korrektheit eine Todsünde: Sie glauben, dass ihre Nachbarn in Hunderten von Orten landauf, landab in Litauen, Lettland und Estland nicht nur mit den Nazis kollaboriert haben, sondern in den meisten Fällen bereitwillig an den Tötungen teilgenommen haben. Und sie glauben – das ist der Knackpunkt –, dass es die Russen waren, die sowjetische Armee, die jene wenigen gerettet haben, die überlebten. Dafür werden sie gehasst.
Wie drückt sich diese Politik Litauens aus?
Unmittelbar nach dem Kollaps der sowjetischen Macht wurde das Genozid-Museum gegründet. 1998 setzte der damalige Präsident eine Kommission zur Untersuchung sowohl der nazistischen als auch der sowjetischen Verbrechen ein, die das Modell »Rot gleich Braun« übernahm. Im Juni 2008 wurden nazistische und sowjetische Symbole verboten. Das kam hier vielen Beobachtern merkwürdig vor, weil es zwar Naziaufmärsche gibt, aber niemand marschiert hier mit sowjetischen Symbolen – außer den Veteranen, die am 9. Mai jedes Jahres in ihren alten Uniformen den Sieg über die Nazis feiern.
Das Verbot von Hakenkreuzen wurde übrigens nie durchgesetzt. Im Mai 2010 hat ein Gericht in Klaipeda entschieden, das Hakenkreuz sei ein altes baltisches Zeichen und kein Nazisymbol. Gutachter war ein ultranationalistischer Rassist aus Vilnius. Im Juni 2010 wurde ein Gesetz verabschiedet, das zwei Jahre Gefängnis für diejenigen vorsieht, die sich der »Bagatellisierung« des Nazi- oder des sowjetischen Völkermordes schuldig machen, also nicht mit der offiziellen Meinung übereinstimmen.
Im Westen ist kaum etwas davon bekannt, lediglich die Verfolgung ehemaliger jüdischer Partisanen hat einiges Aufsehen erregt.
Das ist eine weitere schmerzvolle Geschichte. Im Jahr 2006 hat die litauische Justiz gegen Yitzhak Arad ermittelt, einen Holocaust-Überlebenden und ehemaligen Direktor der Holocaust-Forschungs- und Gedächtnisstätte Yad Vashem in Israel. Sie haben ihn einen Kriegsverbrecher genannt, weil er aus dem Ghetto geflohen war und sich den Partisanen angeschlossen hatte. 2008 wurden die Untersuchungen ausgeweitet auf mehrere andere Partisaninnen. Sie sind nie konkreter Taten beschuldigt worden, die Untersuchung wurde aber auch nicht offiziell beendet. Das ist eine schwerwiegende Verhöhnung, dass diese Frauen, Helden des Kampfes gegen Hitler, in die Geschichte als verdächtige Kriegsverbrecher eingehen sollen.
* Professor Dovid Katz, 1956 in New York geboren, war vor rund zwölf Jahren nach Vilnius gezogen und hatte das Jiddische Institut an der dortigen Universität mit aufgebaut – ohne politisches Interesse, wie er sagt. Wegen seines Engagements für ehemalige jüdische Partisanen wurde er jedoch im vergangenen Jahr entlassen.
Aus: Neues Deutschland, 10. März 2011
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