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Billige Arbeitskräfte – willige Politik

Neues AKW in Litauen. Von Reinhard Wolff, Stockholm *


Litauen wurde vor sieben Jahren mit der Bedingung in die EU aufgenommen, dass die alten Atomkraftwerke abgestellt werden. Nun will das Land einen neuen Meiler bauen.

Andere Länder steigen aus der Atomkraft aus, Litauens Regierung dagegen will Ende Juli den Beschluss für den Bau eines neuen AKWs fassen. Das kündigte Ministerpräsident Andrius Kubilius kürzlich an. Trotz der schlechten Erfahrungen, die derzeit in Europa mit AKW-Neubauten wie Olkiluoto 3 in Finnland sowie einem dritten Reaktor im französischen AKW Flamanville – beide vom französischen Atomkonzern Areva gebaut – gemacht werden, gibt er sich zuversichtlich: Immerhin gebe es zwei Interessenten für den Bau. Das sind mehr als im vergangenen Jahr, als eine erste Ausschreibung für einen Reaktorneubau gescheitert war.

Diesmal sind die USA mit im Spiel. «Wir unterstützen Litauens Bemühungen, seine Energieunabhängigkeit zu sichern», sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton Ende Juni bei einem Besuch in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Und das «schliesst die regionale Entwicklung von Nuklearkraft ein». Was Washington wohl besonders freut: Der US-Anbieter Westinghouse liegt gut im Rennen, was den geplanten Neubau angeht, nicht nur als Lieferant der Technik, sondern auch als Teilinvestor.

Finnisches Finanzierungsmodell

Westinghouse-Europa-Direktor Anders Jackson hatte wenige Tage vor dem Clinton-Besuch gegenüber der litauischen Wirtschaftszeitung «Verslo Zinios» kein Hehl daraus gemacht, was Litauen für sein Unternehmen als AKW-Standort attraktiv mache: billige Arbeitskräfte, um die Baukosten niedrig zu halten, willige PolitikerInnen und eine ausreichende Leitungskapazität, um Strom nach Mitteleuropa und Skandinavien exportieren zu können.

Eine baldige Bauentscheidung vorausgesetzt, so Jackson, könne ein Westinghouse-Reaktor bereits 2020 ans Netz gehen. Sein Konzern habe bewiesen – so der Seitenhieb gegen den Rivalen Areva –, dass man sowohl zeitliche wie finanzielle Vorgaben einhalten könne. Und er verwies dabei auf die Reaktoren des Typs AP-1000. Vier solcher Anlagen baut der Konzern derzeit in China – erprobt ist der Typ noch nicht. Ein oder zwei dieser Reaktoren zum Preis von je fünf Milliarden US-Dollar sind angeblich für Litauen im Gespräch. Ein weiterer Bauinteressent ist die japanische Hitachi, deren Präsident Hiroaki Nakanishi kürzlich ebenfalls einen Besuch in Vilnius abstattete.

Dabei schienen die litauischen AKW-Träume im vergangenen Jahr geplatzt, als sich damals weder europäische Stromkonzerne wie Électricité de France, Vattenfall, Iberdrola oder RWE noch US-Reaktorbauer für ein Geschäft mit Litauen interessiert hatten. Mit der südkoreanischen Kepco hatte es nur eine einzige Bewerberin gegeben, die ihr Angebot dann aber wieder zurückzog.

Weil kein Lieferant gefunden werden konnte, der gleichzeitig das Betreiberrisiko übernehmen wollte, versucht Litauen nun ein Investitions- und Steuersparmodell ähnlich dem, mit dem in Finnland die AKW-Neubauten finanziert werden: Auf Unternehmensgewinne, die in die AKW-Betriebsgesellschaft investiert werden, müssen keine Steuern gezahlt werden. Zudem erhalten InvestorInnen keine zu versteuernden Dividenden, sondern entsprechend ihrer Investitionsanteile einen Anteil an der Stromproduktion zum Selbstkostenpreis. Für die dadurch geschaffenen verdeckten Gewinne müssen ebenfalls keine Steuern gezahlt werden.

Nach diesem Dreh fehlen nur noch die risikofreudigen InteressentInnen, die ausreichend sicher sind, dass sich ihre Inves­titionen ab 2020 über mehrere Jahrzehnte rechnen werden. Zumindest in den Nachbarländern ist man zurückhaltend. Lettlands Regierungschef Valdis Dombrowskis machte eine mögliche Beteiligung seines Landes von einer gründlichen Kostenanalyse abhängig. Polen, ursprünglich an einer Zusammenarbeit inter-essiert, verfolgt nun eigene AKW-Pläne. Hinzu kommt, dass die mögliche Konkurrenz russischer, polnischer und weissrussischer AKW-Neubauprojekte, die auf den gleichen Exportmarkt wie das litauische zielen würden, einen grossen Unsicherheitsfaktor für InvestorInnen darstellt.

Erdbebengefährdeter Standort

Die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima scheint bei den litauischen PolitikerInnen kaum etwas bewirkt zu haben. «Verschiedene Länder gehen unterschiedliche Wege», verteidigt Energieminister Arvydas Sekmokas den Kurs der Regierung und verweist auf Frankreich und Finnland.

In der Bevölkerung allerdings gab es nach Fukushima einen Wandel in der bislang atomkraftfreundlichen öffentlichen Meinung, eine deutliche Mehrheit spricht sich inzwischen gegen einen AKW-Neubau aus. Eine Anti-AKW-Bewegung gibt es allerdings so gut wie nicht. Bauentscheidend wird sein, inwieweit sich die Abgeordneten im litauischen Parlament, die den endgültigen Beschluss treffen müssen, von der Volksmeinung beeinflussen lassen werden.

Litauen hatte Ende 2009 den zweiten Reaktor des AKWs Ignalina abgeschaltet. Der ers­te war bereits 2004 vom Netz genommen worden. Die Abschaltung dieser aus Sowjetzeiten geerbten und als besonders unsicher eingeschätzten Siedewasserreaktoren war eine Vor­aussetzung gewesen für den EU-Beitritt des Landes. Der nun geplante AKW-Neubau soll bei Visaginas in der Nähe der alten Ignalina-Reaktoren erfolgen. Der Standort gilt allerdings als erdbebengefährdet.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 14. Juli 2011

+++ Update vom Freitag, 15. Juli 2011, 15 Uhr +++

Die litauische Regierung hat sich zwischenzeitlich entschieden. Nicht «Westinghouse», sondern die japanisch-US-amerikanische «Hitachi-GE Nuclear Energy» werde den Zuschlag erhalten, kündigte Ministerpräsident Andris Kubilius auf einer Pressekonferenz am 14. Juli an. Der Konzern soll Litauen einen ABWR (Advanced Boiling Water Reactor), einen Siedewasserreaktor der «3. Generation» mit einer Leistung von 1300 MW bauen, der 2020 ans Netz gehen soll. Weitere Einzelheiten wurden noch nicht bekannt, ein Vertrag soll bis Jahresende geschlossen werden. Hitachi-GE verspreche eine erprobte und ausgereifte Technik zu liefern, sagte Kubilius. Dieser Optimismus der litauischen Regierung muss verwundern. Zwei Reaktoren dieses Typs sind bereits seit 1999 in Taiwan im Bau und sollen nach zahlreichen Verzögerungen endlich in diesem bzw. kommendem Jahr fertig werden. Weitere vier Reaktoren sind in Japan in Betrieb und offenbar recht störanfällig. Laut offiziellen Zahlen der Internationalen Atomenergieagentur IAEA für die 2004 bzw. 2006 ans Netz gegangenen Reaktoren Hamooka-5 und Shika-2 liegt für deren bisherige Betriebsdauer der «Operational Facto» bei lediglich 46,6 bzw. 47,1 Prozent. Das erste Exemplar dieses Modells ging 1996 beim japanischen AKW Kashiwazaki-Kariwa ans Netz. Vor Tsunami und Kernschmelze waren vom Energieversorger Tepco zwei ABWR-Neubauten auch für den Standort Fukushima I als dortige Reaktoren sieben und acht vorgesehen gewesen.

(WOZ, 15. Juli 2011; www.woz.ch




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