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Exodus aus Libyen

Westliche Unterstützung für Sturz Ghaddafis wurde zum Bumerang. Waffen destabilisieren gesamte Region

Von Sofian Philip Naceur, Tunis *

Libyen versinkt weiter im Chaos. Rund drei Jahre nach dem Sturz von Muammar Al-Ghaddafi erlebt das nordafrikanische Land eine Flüchtlingswelle in die Nachbarländer Tunesien und Ägypten. Wochenlange gewalttätige Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Tripolis, dem ostlibyschen Bengasi und anderen Orten, bei denen seit Mitte Juli nach Angaben von Libyens Gesundheitsministerium mindestens 200 Menschen starben und über 1000 verletzt wurden, zwingen vielerorts die Menschen zur Flucht. Wie das Außenministerium in Tunis berichtete, überqueren täglich zwischen 5000 und 6000 Menschen allein den Grenzübergang in Ras Jedir im Nordosten Tunesiens. Unter ihnen befinden sich auch zahlreiche ägyptische Staatsbürger, die meist in der libyschen Erdölindustrie beschäftigt sind.

Die Regierungen in Tunis und Kairo sowie die libyschen Behörden kooperieren inzwischen eng bei der Evakuierung von rund 13000 Ägyptern, die auf der libyschen Seite des Ras-Jedir-Grenzübergangs festsitzen. Mit Sonderflügen und per Schiff konnten bereits rund 12200 Menschen in ihre Heimat zurückkehren, informierte das Außenministerium in Kairo.

Anfang August hatte Tunesien den Grenzübergang vorläufig geschlossen. Der Andrang an der Grenze sei zu groß gewesen, hieß es zur Begründung. Zwei Ägypter seien getötet worden, nachdem die libysche Grenzpolizei Tränengas gegen die Menschen eingesetzt und Warnschüsse abgefeuert hatte. Tunesiens Regierung ist mit der hohen Anzahl an Flüchtenden überfordert. Inzwischen sollen sich bereits rund eine Million Menschen aus Libyen im Land aufhalten – Tunesien hat rund elf Millionen Einwohner. Der Wohnungsmarkt ist stark unter Druck geraten, die Inflation steigt und das subventionierte Benzin wird knapp. Auch die Zahl der Menschen, die Schutz in Ägypten suchen, steigt. Derzeit passieren allein in Salloum im Nordwesten Ägyptens täglich rund 4000 Libyer die Grenze. Insgesamt sollen sich mittlerweile rund zwei Millionen Libyer im Ausland aufhalten – ein Drittel der libyschen Gesamtbevölkerung.

Die anhaltende Eskalation der Gewalt in Libyen destabilisiert die Nachbarländer auch direkt. Grenzüberschreitende Angriffe libyscher Islamisten haben stark zugenommen. Der Waffenschmuggel in der Region wird noch heute aus Beständen genährt, die noch vom alten libyschen Regime angelegt worden waren, aber auch aus den verbliebenen Resten der Militärhilfe des Westens für die damals hofierten Gegner Ghaddafis. Nach dessen Sturz waren es Waffen aus Libyen, die den Konflikt in Mali anheizten. Weitere Waffen sind in die Hände von Extremisten in Tunesien, der ägyptischen Sinai-Halbinsel und Algerien geraten. So müssen sich inzwischen etwa Algier und Tunis verbünden, um gemeinsam gegen die Islamistengruppe Ansar Al-Scharia vorzugehen, die zuletzt mehrfach das tunesische Militär angegriffen hatte. Sollte der Westen geglaubt haben, durch den Sturz Ghaddafis Nordafrika unter seine Kontrolle zu bekommen, hat sich diese Strategie als Bumerang erwiesen. Die Region ist instabiler denn je.

* Aus: junge Welt, Dienstag 12. August 2014


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