Der Krieg ist nach Libyen zurückgekehrt
Die schweren Kämpfe zwischen Milizenallianzen in mehreren Stadtteilen von Tripolis gehen in die dritte Woche
Von Mirco Keilberth, Tripolis *
Über 80 Tote, 400 Verletzte und ein verwüsteter Flughafen – bei den Artilleriegefechten am Airport brennt seit Dienstag zudem ein zweiter riesiger Benzintank.
Giftige schwarze Rauchsäulen am Himmel und Radiodurchsagen über eine bevorstehende gigantische Explosion vertreiben derzeit Tausende Familien aus ihren Häusern. »Es ist schlimmer als 2011«, sagt Mohamed Burki, ein Geschäftsmann aus dem Stadtteil Suk Al-Juma. Nur der mutige Einsatz freiwilliger Einsatzkräfte wie Ali Alfitori verhinderte bisher eine größere Katastrophe. Der Ingenieur der libyschen Gesellschaft Brega Oil schloss mitten im Flammeninferno die Ventile zu benachbarten Öltanks, deren Explosion womöglich einen ganzen Stadtteil verwüstet hätte.
Nachdem sich die Feuerwehrleute zurückziehen mussten, kündigte die italienische Regierung auf ein verzweifeltes Hilfeersuchen des libyschen Premiers an, sieben Löschflugzeuge nach Tripolis zu schicken.
Doch die Miliz des ehemaligen Kongressabgeordneten Saleh Badi, scheint fest entschlossen zu sein, sämtliche Infrastruktur unter der Kontrolle ihrer Gegner zu zerstören. »Tripolis ist Opfer eines Kampfes um Einfluss, Geld und damit Macht«, sagte der Geschäftsmann Burki entnervt, stellvertretend für viele.
Am wichtigsten islamischen Feiertag im Jahr, dem Eid Bairam am Montag, fielen die sonst üblichen Familienbesuche in der Hauptstadt meist aus. Kilometerlange Warteschlangen vor den wenigen geöffneten Tankstellen, Strom und Telefonnetzausfälle zehren an den Nerven der Bürger.
Vermittlungsversuche von Stammesältesten zwischen den Islamisten aus der Rebellenhochburg Misrata und den sogenannten Zintan-Milizen scheiterten. Misrata kontrolliert den kleineren Militärflughafen von Tripolis und will Zintan unter allen Umständen vom internationalen Flughafen vertreiben. Beide Seiten importierten in den vergangenen Monaten Waffen in großer Zahl.
Nun fürchtet man, dass eine weitere Gruppierung von dem in Libyen entstandenen Sicherheitsvakuum profitieren könnte: IS, der so genannte »Islamische Staat« in Irak und Syrien. Viele IS-Kommandeure kommen aus Libyen. Sie zogen Anfang 2012 mit Kampferfahrung und Waffen über die Türkei in den Krieg gegen Syriens Präsidenten Baschar al-Assad. Es heißt, mehr als 2000 Libyer kämpften derzeit in Syrien.
Die Selbstmordattentate auf die Saika in Bengasi gehen angeblich auch auf ihr Konto. In der von Dschihadisten kontrollierten Stadt Derna wurden am Wochenende erstmals zwei jugendliche »Verbrecher« nach dem Urteil eines islamischen Schura-Gerichtes enthauptet. »Falls der IS nach Teilen Iraks und Syriens auch aus Libyens ein Kalifat machen will, dies wäre der beste Zeitpunkt«, sagte ein hochrangiger Offizier des libyschen Verteidigungsministeriums. Dort herrscht ein Machtkampf zwischen den langjährigen Soldaten aus der Gaddafi-Zeit und den vom Nationalkongress eingesetzten Islamisten.
Khaled Sharif ist als Vizeverteidigungsminister zuständig für die Integration der Milizen in die Armee. Über den Schreibtisch des Afghanistanveteranen gehen aber auch die Soldbescheide der libyschen Armee. Fast alle islamistischen Milizen werden von der Regierung bezahlt – obwohl sie den Staat bekämpfen.
Gerade hat Sharif einem Dutzend ehemaliger Kampfgefährten aus Afghanistan Posten im Ministerium verschafft. Dessen Sitz an der Flughafenstraße haben er und seine Leute aber schon vor Wochen verlassen. Dort tobt jetzt der Kampf um die Macht in Tripolis. In seinem neuen Kommandoposten nahe der Schweizer Botschaft versichert der Mann freundlich: »Der Aufbau von Armee und Polizei ist meine erste Priorität.« Er möchte bestimmte ausländische Botschafter beruhigen, die sich trotz seiner islamistischen Vergangenheit gerne mit ihm trafen – wohl auch, um Rüstungsgüter in Libyen an den Mann zu bringen.
Nach den Kämpfen in Tripolis und Bengasi scheint eine gemeinsame libysche Armee in weite Ferne gerückt zu sein. Die Stämme in der östlichen Provinz Cyrenaika haben zusammen mit Offizieren beschlossen, einen eigenen Militärrat zu gründen, der als Keimzelle der neuen libyschen Armee dienen soll.
Der 60-jährige Ali Takbali ist im Bezirk Tripolis-Mitte in das neue Repräsentantenhaus gewählt worden. »Nach ihrem herben Verlust bei den Wahlen vom 25. Juni wollen die Islamisten den demokratischen Übergangsprozess zerstören«, glaubt er. Als ersten Schritt wolle das Repräsentantenhaus daher alle illegalen Milizen verbieten und deren Bezahlung einstellen. Das ist wohl der Grund, warum Badi und seine Islamistenallianz diesen Krieg führen, vermutet Takbali.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch 30. Juli 2014
Blutiger Kampf um Macht und Pfründe
Milizen in Libyen mit viel Waffen und wenig Kontrolle
Libyen steht drei Jahre nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi nur noch einen Schritt entfernt vom totalen Chaos. Nach Einschätzung der US-nahen International Crisis Group sind 125 000 der sechs Millionen Libyer bewaffnet. Die wichtigsten bewaffneten Gruppen in Libyen:
Libysche Armee: Die offiziellen Streitkräfte mit etwa 35 000 Soldaten sind angesichts der bewaffneten Übermacht an Milizen nicht dominierend. Ständig kommt es zu Desertionen. Bei Auseinandersetzungen in den vergangenen zwei Jahren setzte die Armee in Kämpfen häufig auf die Hilfe von Milizen. Soldaten, die unter Gaddafi dienten, wurden größtenteils aus der Armee ausgestoßen.
Al-Saika: Die Eliteeinheit besteht aus bis zu 5000 paramilitärischen Kämpfern. Sie untersteht dem Verteidigungsminister, kämpft aber gemeinsam mit dem abtrünnigen Generalmajor Chalifa Haftar in dessen »Operation Würde« im Osten des Landes gegen islamistische Gruppierungen. Das neu gegründete Militärbündnis aus abtrünnigen Soldaten nennt sich »Nationale Armee«.
Misrata-Brigaden: Angeblich gehören zu ihr etwa 230 Kommandos mit unsgesamt 40 000 Kämpfern. In der Stadt Misrata wurde im Oktober 2011 der ermordete Gaddafi in einem Kühlhaus zur Schau gestellt, bevor er an einem unbekannten Ort in der Wüste begraben wurde. Die Misrata-Brigaden sind derzeit in die heftigen Kämpfe am internationalen Flughafen Tripolis verwickelt.
Libyens Schutzschild: Die Gruppe wurde 2012 gegründet, um Anti-Gaddafi-Milizen zu sammeln. Die Brigaden mit 6000 bis 12 000 Mitgliedern stehen der Muslimbruderschaft nahe.
Operationszentrum der Revolutionäre in Libyen: Die 200 bis 350 Mann starke Kampfbrigade wurde Anfang 2013 gegründet und untersteht dem Parlamentspräsidenten. Davon unbeeindruckt beteiligten sich bewaffnete Mitglieder der Gruppierung an der Entführung des Ministerpräsidenten Ali Seidan. Offiziell ist die Truppe derzeit dem Verteidigungsminister unterstellt.
Wächter der Erdöleinrichtungen: Die Brigade wurde einst vom Verteidigungsministerium bezahlt. Allerdings machten sich die Kämpfer unter Ibrahim Dschadhran selbstständig. Sie blockieren wichtige Ölverladehäfen und fordern die Autonomie der Ostlibyens, also der Cyrenaika mit Bengasi als Hauptstadt. Die »Wächter« behaupten, 17 000 Kämpfer unter ihrem Kommando haben.
Ansar al-Sharia: Schätzungen über die Zahl der Mitglieder reichen bis zu 5000. Die radikalste islamische Gruppe will einen Gottesstaat errichten. Sie soll an dem Angriff auf das US-Konsulat beteiligt gewesen sein, bei dem im September 2012 der Botschafter starb.
Aufbau einer zentralen Armee von Islamisten verhindert
Nach Gaddafis Liquidierung besetzten Vertreter des politischen Islams Schlüsselpositionen in Libyen **
Dank des NATO-Luftkriegs hatten Libyens Rebellen 2011 den Gaddafi-Clan besiegt. Damit war alles, erreicht, was sie einte. Jetzt kämpfen sie gegeneinander.
Zwei Faktoren haben zur Zuspitzung der Kämpfe beigetragen: das schlechte Abschneiden der religiös-konservativen Kräfte wie der Muslimbrüder bei den Parlamentswahlen am 25. Juni und die »Karama« genannte Offensive des früheren Generals Chalifa Haftar in Bengasi. In Tripolis zudem zwei Militärallianzen um die Stadtmilizen aus Misrata und Zintan um die Macht.
Seit vier Wochen bombardiert die libysche Luftwaffe unter dem Befehl von General Haftar die Stellungen von Ansar al-Sharia und anderen islamistischen Milizen. Haftar befehligte in den 80er Jahren unter Muammar al-Gaddafi Libyens Krieg gegen Tschad und ging nach einer schmachvollen Niederlage ins US-amerikanische Exil. Er kehrte erst bei Beginn des Umsturzes nach Bengasi zurück. Seit der Ermordung Abdulfatah Younis', des populären Kommandeurs der Anti-Islamisten-Spezialeinheit »Al-Saika«, im Sommer 2011 warnte Haftar immer wieder vor einer stillen Machtübernahme durch die Islamisten.
Nachdem in zwei Jahren über 400 Soldaten hauptsächlich in der östlichen Cyrenaika Attentaten zum Opfer gefallen waren, gelang es Haftar, die Mehrheit der Armeeoffiziere zum Aufbau einer Widerstandsbewegung zu bewegen. »Wir müssen angreifen, denn wir sind die nächsten auf der Liste der Islamisten«, warnte Haftar im Mai.
Gaddafi hatte den religiös-militanten Widerstand gegen sein Regime lange mit Hilfe von Younis erfolgreich bekämpft, ab 2009 versuchte Gaddafis Sohn Saif einen Ausgleich mit dem im gesamten Mittleren Osten erstarkten politischen Islam zu finden. Viele libysche Islamisten wurden damals aus dem Gefängnis entlassen und schlossen sich anfangs dem Aufstand gegen Gaddafi nicht an.
Doch nach Gaddafis Liquidierung besetzten Vertreter des politischen Islams Schlüsselpositionen in Nachkriegs-Libyen. Sie bildeten eine Parallelarmee und eine Parallelpolizei. Das unter Androhung von Gewalt verabschiedete Isolationsgesetz schloss gleichzeitig alle Amtsträger seit 1969 – dem Jahr, als Gaddafi König Idris stürzte – von politischen Ämtern und aus Behörden aus. Der von der Mehrheit der Bürger immer wieder geforderte Aufbau von Armee und Polizei wurde aber bewusst verschleppt. Mit Hunderten Millionen Euro versuchte Premierminister Ali Seidan die Loyalität zu erkaufen – erfolglos. Da die Islamisten bereits das Verteidigungsministerium kontrollierten, hatten die bisherigen Übergangsregierungen praktisch keinen Schutz, um sich gegen die Milizen zu wehren.
In Bengasi, der Hauptstadt der Cyrenaika, wendet sich das Blatt seit Beginn der »Karama«-Offensive langsam zugunsten der Haftar-Armee. Die Bevölkerung steht Haftar zwar kritisch gegenüber, von der Willkür der Milizen hat sie jedoch genug. Luftwaffe, Armee und die meisten Stämme Ostlibyens haben sich inzwischen auf die Seite Haftars geschlagen. Doch die Teilung der Gesellschaft geht bis in die Familien, nicht wenige haben ein Mitglied sowohl bei der Saika als auch bei Ansar al-Sharia.
Mirco Keilberth
** Aus: neues deutschland, Mittwoch 30. Juli 2014
Zurück zur Libyen-Seite
Zur Libyen-Seite (Beiträge vor 2014)
Zurück zur Homepage