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Jeder gegen jeden

Kämpfe und fortschreitender staatlicher Zerfall in Libyen

Von Rainer Rupp *

Bei Kämpfen in der südlibyschen Oasenstadt Kufra zwischen Mitgliedern des Tubu-Stammes und Regierungstruppen sind übers Wochenende 35 Menschen getötet worden. Seit dem von der NATO ermöglichten Sturz des Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi bekämpfen die Tubu in der Grenzregion zu Niger und Tschad nicht nur die Provisorische Zentralregierung in Tripolis (NTC), sondern auch den rivalisierenden Stamm der Al-Zwia. Beide Stämme haben eine lange Geschichte voller Feinseligkeiten, die jetzt wieder mit Waffen ausgetragen werden. Dabei starben seit Anfang des Jahres mindestens 200 Mitglieder der beiden Stämme, die sich gegenseitig vorwerfen, »Ghaddafi-Loyalisten« zu sein.

Anarchie, begleitet von Sezessionsbestrebungen floriert auch in den großen urbanen Zentren Libyens. Vorreiter der Abspaltungsversuche sind die Rebellenhochburgen Bengasi, Misrata und Zintan. So hat sich die drittgrößte Stadt des Landes Misrata zwar noch nicht offiziell von der Zentralregierung losgesagt, aber faktisch sei es bereits eine »unabhängige Republik«, berichtete kürzlich der Korrespondent der britischen Tageszeitung The Guardian nach einem Aufenthalt vor Ort. Mit dem NTC in Tripolis wolle die erst kürzlich gewählte Stadtregierung nichts zu tun haben, denn die Regierung werde als korrupt, geheimniskrämerisch und diktatorisch angesehen.

Unterdessen seien die Stadtoberen erfolgreich damit beschäftigt, den Hafen Misratas, den größten des Landes, wieder zum führenden Im- und Exportzentrum zu machen. Zugleich ist der Stadtrat dabei, mit eigenen Gesetzen und Erlassen das Bildungs- und Gesundheitssystem, die Polizei und sogar die Armee zu reorganisieren. Misrata verfügt über etwas weniger als die Hälfte der Milizen des Landes und über mehr als die Hälfte der schweren Waffen, einschließlich 820 Panzer. Das geht aus einer jüngst fertiggestellten Studie der Oxford University hervor, die den Milizen Misratas und Zintans zudem gute Disziplin und einen hohen Organisationsgrad bescheinigt.

Die größte politische Herausforderung gegen den NTC in Tripolis geht von Bengasi aus, das wie Misrata bereits Anfang des Jahres Wahlen abgehalten hat. Begleitet von Aufrufen zur Unabhängigkeit von ganz Ostlibyen (ehemalige Provinz Cyrenaica) ist die neue Stadtregierung von Bengasi dabei, den Einfluß der Zentrums weiter zu beschneiden.

Derweil soll es in Tripolis unter der Kontrolle des NTC nach Angaben des Guardian-Korrespondenten weiter drunter und drüber zugehen. Pensionen und Gehälter werden oft spät oder gar nicht ausgezahlt, die Arbeitslosigkeit ist hoch, und die erhofften ausländischen Investitionen sind wegen der allgemeinen Verunsicherung ausgeblieben. Der NTC hat zwar die Kontrolle über das Öl, aber die Rebellenmilizen verfügen über die Waffen und motivierten Kämpfer. Der unter westlichem Druck gestartete Versuch des NTC, eine nationale Armee unter Führung ehemaliger Ghaddafi-Generäle aufzubauen, war ein Flop. Die Exrebellen ließen sich nicht rekrutieren. Statt dessen soll nun eine 60000 Mann starke Nationale Gendarmerie (SSC) für die Sicherheit im Land sorgen.

Diese aber gilt nicht nur als unzuverlässig, sondern auch als ineffizient. Von den Milizen von Misrata und Zintan wird sie zudem mit Mißtrauen beäugt. SSC-Einheit haben bisher nicht gewagt, gegen islamistische Einheiten in Ostlibyen vorzugehen, die u. a. einen UN-Konvoi, ein Büro des Roten Kreuzes und vor zwei Wochen das US-Konsulat in Bengasi mit Bomben und Granaten beschossen und letztes Wochenende einen Konvoi der britischen Botschaft angegriffen haben. Derweil kontrollieren die Milizen von Zintan die Ausfallstraßen von Tripolis mittels schwer bewaffneter Kontrollpunkte.

Ebenfalls am Wochenende hat der Kommandeur der Zintan-Brigade Ajmi Al-Atiri die vier Mitglieder des Internationalen Strafgerichtshofs, die den gefangenen Sohn Ghaddafis, Seif Al-Islam, im Gefängnis besuchen wollten, wegen des Verdachts auf Spionage kurzerhand für 45 Tage ebenfalls ins Gefängnis gesteckt. Mittlerweile dürfte die am Montag in Tripolis angekündigte Verschiebung der landesweiten Wahlen bei den Milizen den lang gehegten Verdacht verstärken, daß der NTC beabsichtigt, illegal weiter an der Macht zu bleiben.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 13. Juni 2012


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