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Westerwelle und Libyen: Zurücktreten bitte?

Von Uli Cremer *

Das Kesseltreiben gegen Westerwelle, um ihn aus dem Amt des Außenministers zu drängen, nimmt Fahrt auf. Sogar erste FDP-Mitglieder legen ihm einen „anständigen Rücktritt“ nahe. Anlass ist, dass die NATO inzwischen den Regime-Change (früher hieß das: „Export der Revolution“) in Libyen erfolgreich bewerkstelligt hat. Ihre Luftangriffe gegen die Gaddafi-Regierung sowie Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe für die Rebellen haben diesen zum Sieg im Bürgerkrieg verholfen. Nun finden es viele unangemessen, dass sich Westerwelle auf die Seite der Sieger stellt, denn er war im März gegen den westlichen Kriegseintritt und sorgte dafür, dass sich Deutschland im Sicherheitsrat der Stimme enthielt.

„Der Erfolg der Nato ist ein später Beleg dafür, dass die Entscheidung falsch war, die Außenminister Guido Westerwelle am 17.März getroffen hat.“ Dieser Satz aus der Frankfurter Rundschau ist repräsentativ für den medialen und politischen Mainstream in Deutschland: Wer den Krieg gewinnt, hat Recht. Umgekehrt kann man daraus lesen, dass sich der Mainstream offenbar an dem NATO-Krieg beteiligen wollte. Denn mit „Ja“ stimmen und dann nicht mitmachen – das war natürlich zu keiner Zeit ernsthafte politische Option. Das weiß jeder Westerwelle-Kritiker, auch wenn das öffentlich nicht so gerne zugegeben wird. Das musste man ja „zum Glück“ auch nicht, da z.B. der Bundestag (dank Westerwelle) nie über eine deutsche Kriegsbeteiligung abstimmte. Da hätte sich dann Spreu vom Weizen trennen müssen.

Dass trotzdem einige deutsche Militärs in den NATO-Stäben den Krieg mitführten, wie Christian Ströbele unlängst aufdeckte, sollte man nicht nur aus Demokratie-Gründen (Übergehen des Parlaments) kritisieren, sondern weil die Kriegsbeteiligung falsch war.

Was war an dieser falsch, wo doch der Krieg jetzt offenbar gewonnen ist? Der angegebene Kriegsgrund („humanitäre Intervention“) ist zweifelhaft. Der Hamburger Prof. Reinhard Merkel dazu: „Dass Gaddafis Truppen gezielt Zivilisten töteten, ist vielfach behauptet, aber nirgends glaubhaft belegt worden.“ (FAZ 22.3.2011) US-Professor Alan J. Kuperman stellt im Boston Globe vom 14.4.2011 sogar das Basisargument, es habe ein Massaker an Zivilisten in Bengasi gedroht, in Frage: „Nor did Khadafy ever threaten civilian massacre in Benghazi, as Obama alleged. The “no mercy’’ warning, of March 17, targeted rebels only, as reported by The New York Times, which noted that Libya’s leader promised amnesty for those “who throw their weapons away.’’ Khadafy even offered the rebels an escape route and open border to Egypt, to avoid a fight “to the bitter end.’’”]

Gehen wir trotzdem einmal davon aus, dass im März ein Blutbad in Benghasi durch das Gaddafi-Regime drohte. NATO-Mächte wie Frankreich und Britannien bereiteten Luftangriffe vor und besorgten sich ein UN-Mandat. Die Flugverbotszone wurde eingerichtet. Nach dieser Lesart war Ende März also das Blutbad in Benghasi verhindert worden.

Aber wieso wurde nach der UN-Sicherheitsratsresolution (bis heute) fünf Monate heftig Krieg geführt, ohne dass es zu einem Waffenstillstand und zu politischen Verhandlungen bzw. einer politischen Lösung kam? Warum wurden alle Fact-Finding-Missionen abgelehnt? Wieso mussten mehr als 15.000 Menschen sterben? Weil Regime-Change (und darum ging es den westlichen Mächten von Anfang an) keine Kompromisse erlaubt. Die Waffen hätten nach NATO-Auffassung nur ruhen können, wenn sich der Kriegsgegner bedingungslos ergeben hätte. Weil er das nicht tat, wird er selbstverständlich für alle Opfer verantwortlich gemacht. Jede politische Initiative bzw. jedes Waffenstillstandsangebot Gaddafis wurde zurückgewiesen, da man Gaddafi grundsätzlich nicht trauen könne und dieser abtreten müsse. DANN (also quasi nach dem Regime-Change) könne man verhandeln. Die völlige Kompromisslosigkeit der Rebellen und der NATO ist insofern verblüffend, als viele Rebellenführer sich aus der Gaddafi-Führung rekrutierten. Der fließende Seitenwechsel zur anderen Bürgerkriegspartei wurde von Spiegel Online am 25.8.2011 mit der satirischen „Eilmeldung“ auf die Spitze getrieben, Gaddafi selbst sei nun auch zu den Rebellen übergelaufen. Insofern war die Basis für eine inhaltliche Einigung in Libyen besser als bei manch anderem Konflikt. Trotzdem wurden alle Bemühungen der Türkei, von Venezuela oder auch der Afrikanischen Union ignoriert bzw. bombardiert („Frankreich bombardierte eine Lösung“ – Überschrift in der türkischen Zeitung Hürriyet). In der Liste fehlt – Deutschland! Durch die Stimmenthaltung hätte die Bundesregierung alle Voraussetzungen für eine neutrale Vermittlung mitgebracht, aber hier unternahm Westerwelle offensichtlich nichts. DAS könnte man an ihm kritisieren, aber nicht die Stimmenthaltung im Sicherheitsrat.

Zweifellos war der NATO-Kriegseinsatz in Libyen intensiv: Bis Ende August wurde über 20.000 Lufteinsätze geflogen, darunter fast 8.000 richtige Kampfeinsätze. Zum Vergleich: im 1.Halbjahr 2010 wurden in Afghanistan nicht einmal 15.000 Einsätze geflogen!

Der Vorwurf an Westerwelle lautet nun, dass er den NATO-Kriegseinsatz nicht würdige und stattdessen „rechthaberisch“ auf die Erfolge der von ihm initiierten Sanktionspolitik verweise. Der wegen seiner Nähe zu Gaddafi Ende März im Eilverfahren abberufene russische Botschafter in Libyen, Wladimir Tschamow, schätzte damals, dass der Krieg in 3-4 Monaten zu Ende sei, wenn nämlich das Gaddafi-Regime seine Leute nicht mehr mit Lebensmittel und anderen Dingen versorgen könne. Er hat sich offenbar nur um wenige Wochen verschätzt. Insofern soll man Westerwelles Argument nicht vom Tisch wischen. Denn wie soll eine Großstadt wie Tripolis, die sich nicht selbst ernähren kann und von allen Verkehrsverbindungen abgeschnitten ist, noch versorgt werden? Dass noch auf Schleichwegen Lebensmittel in die Stadt gebracht werden können, ändert an der allgemeinen Versorgungsproblematik nichts. Die tagesschau berichtet entsprechend am 27.8.2011 über die Lage in Tripolis, nachdem die Stadt von den Rebellen erobert wurde: „Für die Menschen in Libyens Hauptstadt Tripolis wird das Leben schwieriger. In der Millionenmetropole fiel stundenlang der Strom aus. Die ganze Stadt sei dunkel, berichtete eine Korrespondentin am Abend der Nachrichtenagentur dpa. Es gebe auch kein Wasser mehr… Zudem mangelt es in der Stadt an frischen Lebensmitteln. Vor den wenigen Geschäften, die frische Waren anbieten, bildeten sich lange Schlangen.“ Die Guthaben Libyens wurden seit März eingefroren und beschlagnahmt. Entsprechend geriet das Gaddafi-Regime auch ohne den täglichen Bombenhagel, der sicher auch der Strom- und Wasserversorgung nicht gut getan hat, immer mehr in die Bredrouille.

Dass die internationalen Sanktionen keine Wirkung auf den Konflikt hatten, kann man also nicht ernsthaft behaupten. Diejenigen, die Westerwelle wegen seiner Analyse des Zusammenbruchs des Gaddafi-Regimes kritisieren und ihn zum Abschwören und zur Würdigung der Militärschläge nötigen wollen, würgen damit gleichzeitig die Diskussionen über nicht-militärische Alternativen ab. Denn Westerwelle hatte bei den Zielen gar keinen Dissens zu seinen westlichen Bündnispartnern, er wollte diese aber ohne militärische Mittel erreichen.

Man muss Westerwelle in diesen Tagen verteidigen. Das geht, auch ohne dass man ihn gleich für den Friedensnobelpreis vorschlägt. Aber es wäre schon absurd, wenn er ausgerechnet zurücktreten würde, weil er etwas richtig gemacht hat.

Dieser Beitrag erschien auf der Website der "Grünen Friedensinitiative", 27. August 2011; http://blog.gruene-friedensinitiative.de/


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