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Zwischen Hip-Hop und der Front

Während im Westen Libyens noch Bürgerkrieg herrscht, kehrt im Osten des Landes Alltag ein

Von Thomas Schmidinger, Bengasi *

Der langjährige Staatschef Muammar al-Gaddafi ist noch immer auf der Flucht, und die libyschen Rebellen kämpfen weiter gegen seine Unterstützer. Gleichzeitig normalisiert sich in den bereits als befreit geltenden Städten das Leben. In Bengasi erfreut sich die Jugend an Musik, während migrantische Arbeiter Restaurants wiedereröffnen.

Libyer zeigen derzeit gerne ein Victoryzeichen, wenn irgendwo westliche Kameras auftauchen und erklären begeistert, wie schön die Freiheit des neuen Libyen doch wäre. Bereits kleine Kinder bitten darum, in Siegespose fotografiert zu werden. In Bengasi danken große Schilder den Franzosen, Briten und Amerikanern für die Waffenbrüderschaft gegen Muammar al-Gaddafi.

Aber keineswegs alle sind so begeistert von den neuen Verhältnissen. Ein älterer Herr, der anonym bleiben will, sagt: »Die westlichen Journalisten berichten immer nur, wie toll hier jetzt alles ist. Ich will, dass sie auch die Kehrseite hören.« In der Altstadt von Bengasi gibt er sich ohne Scheu als Gaddafi-Anhänger zu erkennen. Früher hätten sie Sicherheit und gute Jobs gehabt. Nun liege die Wirtschaft am Boden, in der Nacht könne man kaum mehr aus dem Haus gehen. »Die Rebellen haben Libyen in ein Blutbad getaucht. In diesem Bürgerkrieg sind über 50 000 Libyer ums Leben gekommen. Und wofür?« fragt der Mann. In seinen Augen stecke hinter der Rebellion eine Verschwörung von Auslandslibyern mit dem Westen und Israel.

Israel wird aber auch von Anhängern des Übergangsrates in ihre Verschwörungstheorien eingebaut. Auf dem nach ägyptischem Vorbild zum Midan Tahrir (Platz der Freiheit) umbenannten Platz zwischen Altstadt und Meer befinden sich neben den Bildern von Märtyrern auch Karikaturen von Gaddafi. Viele stellen ihn als Agenten der Israelis dar.

Gaddafis Heimatstadt Sirte, Bani Walid und Teile der Wüstenregion Fezzan sind noch immer in der Hand von Loyalisten des alten Regimes. Während die Einheiten der Rebellen versuchen, Bani Walid einzunehmen und sich einen verlustreichen Häuserkampf in der Hochburg des Gaddafi-loyalen Warfalla-Stammes liefern, gelang es den Truppen des Diktators in dieser Woche, die Ölfelder von Ras Lanuf anzugreifen.

Ist Gaddafis Tod es wert zu sterben?

In Tubruk, im äußersten Osten Libyens, berichtet Abdullah stolz, dass seine beiden Söhne gerade für die »Befreiung von Bani Walid« kämpfen. Gestern Abend habe er das letzte Mal mit ihnen telefoniert. Den beiden gehe es gut. Die Frage, ob der Sturz Gaddafis es wert sei, das Leben seiner Söhne zu riskieren, kann er nicht verstehen. »Wir kämpfen für unsere Freiheit.« Und für diese Freiheit ist er bereit, Opfer zu bringen. Selbstverständlich hofft Abdullah, dass beide wieder wohlbehalten nach Hause kommen. Gezögert habe aber keiner seiner Söhne, an die Front zu gehen. Die Familie sei stolz darauf, Kämpfer für die Revolution zu stellen.

Während an der Front gekämpft wird, ist Bengasi eine Stadt voller Polit- und Kulturaktivisten. Auf der Corniche am Mittelmeer gibt es an kleinen Ständen selbst gebrannte CDs mit Soundtracks zur Revolution zu kaufen. Neben traditionellen Musikstilen finden sich Rap, Hip-Hop und weitere Stilrichtungen, die auch Jugendlichen in Europa gefallen würden.

Schließlich hat die libysche Revolution nicht als Bürgerkrieg begonnen, sondern wie die Revolutionen in Tunesien und Ägypten als Jugendbewegung. Die in Bengasi beheimatete Band »Guys Underground« hatte mit einer Allegorie des Diktators als tyrannischem Vater schon vor Beginn der Revolution die Jugend der Hafenstadt auf den Aufstand vorbereitet. Unter Gaddafi hatte die sich im Untergrund entwickelnde Rap-Szene keine Chance, im Fernsehen oder Radio aufzutreten. Jetzt sind die jungen Musiker – nur selten sind junge Mädchen darunter – Teil der Revolutionsbewegung. Auch wenn sie dabei, wie die Hip-Hopper von »AZ«, den Dschihad gegen Gaddafi besingen, verbindet diese Jugendlichen wenig mit den islamistischen Fraktionen in der heterogenen Rebellenarmee. Bengasi ist eine liberale und weltoffene Hafenstadt geblieben. Die Jugendlichen wollten mit ihrer Rebellion nicht zuletzt aus der von Gaddafi verordneten Isolation ausbrechen.

Konflikte zwischen Rebellengruppen

Die Nachfolger der Libyschen Islamischen Kampfgruppe mögen im Militärapparat der Rebellen eine gewisse Rolle spielen. In Bengasi verfügen sie über wenig Unterstützung. Die Spannungen zwischen Säkularisten und Islamisten sowie zwischen Milizen unterschiedlicher tribaler und regionaler Herkunft sind denn auch die politisch heikelsten Fragen für die libysche Nachkriegsordnung. Erst wenn Sirte, Bani Walid und der Fezzan in der Hand der Rebellen sind, wird sich herausstellen, ob die heterogene Allianz aus Rebellenverbänden fähig ist, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen. Die Ermordung des Rebellenkommandanten Abd al-Fattah Yunis Ende Juli, der einem internen Konflikt der Rebellen zum Opfer gefallen sein dürfte, ist hierfür kein gutes Vorzeichen. Yunis wird in Bengasi zwar als Held gefeiert, allerdings wurde sein Tod bislang nicht aufgeklärt. Bereits während der Pressekonferenz des Übergangsrats-Vorsitzenden Mustafa Abdul Jalil kam es zu einer ebenfalls unaufgeklärten Schießerei um das Hotel.

Zeitungen in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten beschwören immer wieder die Einheit der Rebellen und schildern die Gefahren einer möglichen Zersplitterung. Die »Libya Post« aus Bengasi plädierte dafür, die verschiedenen Brigaden unter ein gemeinsames Kommando zu stellen. Sonst bestünde die Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen den Rebellen. Tatsächlich bleibt die Sicherheit auch im Osten des Landes fragil. Am 1. August kam es in der Nähe von Bengasi zu bewaffneten Auseinandersetzungen um eine Brigade der Rebellen, für die von Seiten des Übergangsrats eine Kolonne von Gaddafi-Anhängern verantwortlich gemacht wurde.

Auch in Bengasi hört man skeptische Stimmen über die Zukunft. Muhammad, der als Oppositioneller in die USA flüchtete und nun zum ersten Mal seit 18 Jahren wieder nach Libyen zurückkehrte, fürchtet sich vor Machtkämpfen unterschiedlicher bewaffneter Einheiten: »Ich würde nichts lieber tun, als hier in Libyen zu bleiben. Ich weiß aber nicht wie es weitergeht. Die Lage hier ist immer noch sehr unsicher, und ich werde erst hier bleiben, wenn ich mir sicher bin, dass das neue Libyen wirklich eine stabile Demokratie wird.«

Migranten zurück, Frauen verschleiert

Während sich Muhammad den Luxus leisten kann, in den USA abzuwarten, sind andere Migranten bereits nach Libyen zurückgekommen. In den Restaurants der Stadt arbeiten schon längst wieder Tunesier, Ägypter und Algerier, die das Land nur kurz während der ersten Wochen des Krieges verlassen hatten. Jetzt leben sie wieder im relativ wohlhabenden Nachbarland, das ihnen trotz Bürgerkriegs immer noch bessere Jobchancen bietet als ihre Herkunftsländer.

Armut hat im neuen Libyen ein Geschlecht, sie ist weiblich. In Bengasi sieht man ausschließlich Frauen betteln. Nicht weil sie besonders religiös wären, sondern um ihre vermeintliche Schande zu bedecken, tragen sie fast alle den Niqab, den Gesichtsschleier, der nur die Augen frei lässt.

Gerüchteweise hat durch die Anwesenheit westlicher, meist männlicher Journalisten, Sicherheitsberater und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen auch die Prostitution zugenommen. Da es in einem Land wie Libyen, in dem Prostitution immer verboten war, dazu allerdings keinerlei Daten gibt, lässt sich diese Vermutung nur schwer verifizieren. Erfahrungen aus anderen Krisengebieten lassen dies allerdings durchaus glaubhaft erscheinen.

Bis heute hat der libysche Bürgerkrieg über 50 000 Tote gekostet und angesichts der andauernden Kämpfe um Bani Walid, Sirte und Fezzan wird es nicht bei dieser Zahl bleiben. Durch die Beschränkung auf Luftschläge blieben der NATO zwar eigene Tote erspart, allerdings könnte sich die Zahl der Opfer durch verlustreiche Häuserkämpfe um die letzten Gaddafi-Hochburgen noch erhöhen.

Der anonym bleiben wollende Gaddafi-Anhänger hat deshalb in vielerlei Hinsicht recht, wenn er auf den hohen Preis hinweist, den die Libyer für diesen Krieg bezahlen müssen. Dass er dies auf offener Straße einem westlichen Journalisten sagen kann, ohne behelligt zu werden, ist allerdings bereits ein Erfolg der Revolution. In Gaddafis Libyen hätte es niemand gewagt, seinen Dissens einem Europäer gegenüber zum Ausdruck zu bringen.

* Aus: Neues Deutschland, 17. September 2011


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