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Militärintervention in Libyen

Der Krieg als erstes Mittel

Von Yves Wegelin *

Am Donnerstag (17. März) verabschiedete der Sicherheitsrat die Resolution 1973, seit Samstag (19. März) bombardieren westliche Kampfflugzeuge libysche Militärziele. War die Intervention richtig? Und wo führt sie hin? Der Versuch einer Antwort.

Draussen bleiben – oder militärisch intervenieren? Spätestens als der libysche Oberst Muammar al-Gaddafi am Samstagmorgen mit schwerer Artillerie Benghasi unter Beschuss zu nehmen begann, wurde es auch für überzeugte PazifistInnen schwierig, gegen einen Militäreingriff zu plädieren. Josef Lang, Vorstandsmitglied der Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA): «Ich hätte im Sicherheitsrat nicht dagegen protestiert.»

Angesichts eines Autokraten, der droht, Libyen «Haus für Haus zu säubern», war es Frankreich und Britannien zwei Tage zuvor im Uno-Sicherheitsrat leichtgefallen, ihren Plan einer Militärintervention als heroischen Akt zu zelebrieren. «Es wird die Ehre des Uno-Sicherheitsrats sein», erklärte der eigens nach New York gereiste französische Aussenminister Alain Juppé vor versammeltem Rat, «in Libyen das Recht gegen die Stärke, die Demokratie gegen die Diktatur, die Freiheit gegen die Unterdrückung durchzusetzen.»

Wenige Minuten später wurde Resolution 1973 im Sicherheitsrat angenommen – mit fünf Enthaltungen (China, Russland, Brasilien, Indien und Deutschland), ohne Gegenstimme. Ihr erklärtes Ziel: die «Zivilisten zu schützen». Und das, mit «allen notwendigen Mitteln» – ausgenommen Besatzungstruppen. Keine 48 Stunden später bombardierten französische Kampfflieger den ersten libyschen Militärkonvoi. Seither herrscht Krieg.

Das Legitimationsdefizit

Doch ist der laufende Kriegseinsatz wirklich über alle Zweifel erhaben? Kaum. Ihm fehlt die international abgestützte Legitimität. Zwar besitzt der Sicherheitsrat gemäss Uno-Charta tatsächlich das Recht, Militärinterventionen zu beschliessen; und bis heute fehlt auch die demokratischere Alternative dazu. Dennoch bleibt der Sicherheitsrat im Wesentlichen ein Klub der fünf Vetostaaten Frankreich, Britannien, USA, China und Russ­land – der fünf offiziellen Atommächte und Sieger des Zweiten Weltkriegs. An diesem Legitimationsdefizit ändert auch der kürzliche Aufruf der Arabischen Liga zu einer Militärintervention nichts. Haben doch die Autokraten, die in der Liga sitzen, bei ihnen zu Hause jeglichen Rückhalt verloren.

Geführt wird die Militärintervention zudem von einem westlichen Bündnis unter der Führung Frankreichs, Britanniens und der USA – unter der Beteiligung Italiens, der ehemaligen Kolonialmacht in Libyen. An diesem Bild wird auch die symbolische Beteiligung Katars und der Vereinigten Arabischen Emirate nichts ändern.

Dieses Legitimationsdefizit könnte das westliche Militärbündnis schon bald schmerzlich zu spüren bekommen. Trotz des Freudentaumels, mit dem der Uno-Beschluss auf den Strassen der libyschen Rebellenhochburg Benghasi aufgenommen wurde: Bereits einen Tag nachdem die erste französische Bombe auf libyschen Boden gefallen war, sprachen erste arabische Zeitungen von einem «kolonialen Krieg» zur «Sicherung des libyschen Öls». Und je länger der Krieg dauert und je mehr Menschenleben er fordert, desto schneller wird sich die Stimmung in Libyen – aber auch in der gesamten Region – gegen die ehemaligen Kolonialmächte wenden.

Für den erst kürzlich angebrochenen demokratischen Frühling könnte dies einen schmerzlichen Rückschlag bedeuten: Der langsame Zusammenbruch des westlichen Feindbilds war eine wichtige Bedingung, dass sich die Menschen in der arabischen Welt nach oben, gegen ihre eigenen Autokraten, zu wehren begannen. Von einer «endgültigen Befreiung vom Kolonialismus» sprach der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze kürzlich in der WOZ (siehe WOZ Nr. 11/11). Angesichts eines äusseren Feindes könnten einige Menschen erneut der nationalistischen Rhetorik ihrer Autokraten verfallen.

Hier rächt sich wieder einmal die seit Jahren anhaltende Weigerung der Vetomächte, den Sicherheitsrat zu demokratisieren. Auch jeder künftigen Resolution des Sicherheitsrats wird es an Legitimität fehlen. Sei der Militäreinsatz noch so berechtigt.

Zweifelhafte Interessen

Doch auch daran gibt es beim aktuellen Militäreingriff Zweifel. Hält man sich an die (noch fragile) Norm der internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), die sich seit dem Genozid 1994 an den Tutsi in Ruanda herausgebildet hat, so ist ein Militäreingriff in einem Staat in vier Fällen legitim: um einen Genozid, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eine ethnische Säuberung zu verhindern. Allerdings: nur als letztes Mittel.

Einige ExpertInnen wie der bekannte deutsche Friedensaktivist Peter Strutynski halten im Fall von Libyen bereits diese Bedingung für nicht erfüllt: «Die Ankündigung allein macht noch kein Kriegsverbrechen», sagt Strutynski. Zudem erachtet er den Tatbestand des Kriegsverbrechens nicht als genügenden Grund zum Eingreifen. Der Uno-Sicherheitsrat habe klar gegen die Uno-Prinzipien verstossen. Doch auch wenn man die Bedingung als gegeben akzeptiert, so gibt es an der Intervention weitere Zweifel: Obwohl Resolution 1973 die westliche Militärkoalition einzig dazu ermächtigt, die Zivilbevölkerung zu schützen, machen die europäischen Regierungschefs kein Geheimnis aus ihrem Ziel: Gaddafis Sturz.

Für Laurent Goetschel, Direktor der Schweizer Denkfabrik Swiss Peace, ist der Plan der Europäer offensichtlich: «Das Regime soll wegknicken, die Good Guys das Zepter übernehmen – und Europa soll als Geburtshelferin beistehen.» Die Flugverbotszone, so Goetschel, laufe faktisch auf die Stärkung der Rebellen hinaus.

Kurz: Europa hält den Rebellen den Rücken frei, während diese erneut den Marsch nach Tripolis in Angriff nehmen.

Damit verteidigen Europas Regierungen in erster Linie ihre eigenen Interessen: Das Unterstützen der Rebellen ist der Versuch, das schlimmstmögliche Zukunftsszenario in Libyen zu verhindern: ein Libyen unter Gaddafis Herrschaft, der den Europäern Rache geschworen hat, nachdem diese ihn nach anfänglichen Erfolgen der libyschen Rebellen fallengelassen hatten. Rachemittel hätte Gaddafi genug in der Hand: Erdöl, die Öffnung der Flüchtlingsschleusen nach Europa – auch vor Attentaten schreckte Gaddafi in der Vergangenheit nicht zurück.

Wer sind die Rebellen?

Die Regierungschefs der Koalition wurden zudem von persönlichen Interessen zur Intervention getrieben. Frankreichs unpopulärer Präsident etwa konnte sich ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen kaum etwas Schöneres wünschen, als einen heroischen Krieg anzuführen, hinter dem die ganze Nation geschlossen steht. Zudem hofft Sarkozy, mit dem Militäreinsatz sein ramponiertes Image in Nordafrika aufzupolieren, nachdem seine Regierung das tunesische Regime bis zu seinem Sturz gestützt hatte.

Europas Plan wirft weitere Fragen auf: Kann ein monatelanger blutiger Bürgerkrieg tatsächlich in den Aufbau demokratischer Institutionen münden? Und abgesehen davon: Wer sind diese libyschen Rebellen? Repräsentieren sie tatsächlich die prodemokratischen Kräfte im Land, die zu Beginn der Aufstände in ganz Libyen auf die Strasse gingen? Oder sind es nicht doch eher Familien und Clans, die die Gunst der Stunde nutzen, um selbst an die Macht zu kommen? Tatsächlich weiss kaum jemand Genaues über sie. Eine Studie des US-amerikanischen Stratfor-Instituts spricht von einem allgemeinen «Mangel an Wissen, wer die Rebellen wirklich sind», und ortet gleichzeitig «tribale und persönliche Rivalitäten» unter ihnen.

Wären die Europäer wirklich an Demokratie in Libyen interessiert, so hätten sie längst eine andere Strategie ins Auge gefasst: die diplomatische Vermittlung zwischen den verfeindeten Parteien.

Obwohl GSoA-Vorstandsmitglied Josef Lang Resolution 1973 «nachvollziehen» kann, liegt genau hier seine Kritik: «Die zivile Option wurde nie in Betracht gezogen.» Damit steht der grünalternative Nationalrat bei weitem nicht alleine da: Die renommierte Brüsseler Denkfabrik International Crisis Group (ICG) war Tage vor der Verabschiedung der Resolution 1973 mit derselben Forderung an den Sicherheitsrat herangetreten. ICG-Präsidentin Louise Arbour rief den Sicherheitsrat dazu auf, unter der Vermittlung beidseits anerkannter Persönlichkeiten einen Waffenstillstand zu verhandeln – gefolgt von der Förderung eines Dialogs über den Aufbau demokratischer Institutionen.

Eine naive Forderung? Sie wäre nicht nur einen Versuch wert gewesen. Das Gebot, militärische Gewalt nur als allerletztes Mittel einzusetzen, hätte sie ausdrücklich verlangt. Sollten die Europäer nun im Krieg versinken, könnten sie sich irgendwann doch noch auf diese Alternative besinnen.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 24. März 2011


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