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Irakische Verhältnisse in Libyen?

UN-Bericht nährt Zweifel am Vorgehen der Milizen und wirft ihnen Folter und illegale Festnahmen vor

Von Karin Leukefeld *

Erneut werden schwere Vorwürfe gegen die neue libysche Führung laut. Folter, Misshandlungen und illegale Festnahmen seien laut einem UN-Bericht an der Tagesordnung.

Es ist ein düsteres Bild, das der Bericht des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon von der Lage in Libyen zeichnet. Reporter der britischen Tageszeitung »Independent« hatten Einblick in das noch unveröffentlichte Papier, das der Libyen-Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, Ian Martin, für eine Debatte im UN-Sicherheitsrat in der kommenden Woche vorgelegt hat.

Demnach wurden zwar Gefangene des früheren Regimes entlassen, doch seien mindestens 7000 neue »Staatsfeinde« inhaftiert worden, darunter auch Frauen und Kinder. Viele Gefangene seien Schwarzafrikaner und vermutlich wegen ihrer Hautfarbe festgenommen worden. Die Gefangenen würden illegal von Milizen festgehalten, gefoltert und systematisch misshandelt. Da sie teilweise in privaten, provisorischen Gefängnissen untergebracht seien, wo sie von »revolutionären Brigaden« bewacht würden, befänden sie sich »außerhalb der Kontrolle« der neuen libyschen Machthaber. In dem herrschenden Chaos, im Bericht als »nicht funktionierendes System« bezeichnet, sei eine unbekannte Zahl von Menschen »verschwunden«.

Besonders besorgt sei man über die oft mit ihren Kindern zusammen inhaftierten Frauen, die familiär mit Offiziellen des früheren Gaddafi-Regimes verbunden seien. Sie würden von Männern bewacht - ein schwerer Verstoß gegen die Gebräuche der konservativen libyschen Gesellschaft.

Eine große Zahl von Schwarzafrikanern, angeblich von Gaddafi bezahlte »Söldner«, sei nach ihrer Festnahme gelyncht worden, heißt es weiter. Viele hätten in Tawerga gelebt, die Stadt sei von Rebellen aus dem benachbarten Misrata in Schutt und Asche gelegt worden. Die »Söldner« seien angeblich bei Angriffen Gaddafis auf die Hafenstadt Misrata besonders grausam vorgegangen und wären dann aus Rache getötet worden. Aus dem UN-Bericht geht ebenso hervor, dass bei der wochenlangen Schlacht um die Hafenstadt Sirte »von beiden Seiten« vermutlich Kriegsverbrechen begangen wurden. In vielen Städten hätten Milizionäre die Kontrolle übernommen, auch in der Hauptstadt Tripolis. Mehrfach sei es zu mörderischen Auseinandersetzungen zwischen den Truppen gekommen. Waffen- und Munitionsbestände des früheren Regimes seien von Milizen geplündert worden, so der Bericht. Erwähnt werden dabei so genannte Manpads, tragbare Boden-Luft-Raketen. Obwohl die NATO Tausende dieser Manpads zerstört habe, sei man besorgt, dass die geplünderten Waffen weiterverkauft werden könnten. Das gefährde die »lokale und regionale Stabilität«.

Ban Ki Moon zeigte sich »tief geschockt« von dem, was er in einem Lagerhaus in Tripolis sah. Zivile Gefangene des Gaddafi-Regimes seien dort unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und gefoltert worden, heißt es in einer persönlichen Anmerkung. Von diesen seien »so viele wie möglich ermordet und verbrannt« worden. Davon abgesehen sei es aber großartig, dass Libyen nach 42 Jahren totalitärer Herrschaft nun befreit sei. Die neue Regierung befinde sich auf dem Weg zur Demokratie und werde ein funktionierendes Rechtssystem einführen.

Mit der Begründung, die Zivilbevölkerung vor Angriffen der Gaddafi-Truppen zu schützen, hatte die NATO - basierend auf der UNO-Resolution 1973 vom 17. März - einen Militäreinsatz begonnen. Er endete erst nach der Ermordung Gaddafis Ende Oktober. In einem Bericht des UN-Menschenrechtsrates von Anfang des Jahres war Libyen noch sehr positiv beschrieben worden. »Der Schutz der Menschenrechte ist in diesem Land Nordafrikas sichergestellt«, hieß es damals. »Das Land kann sich auf seine wegweisenden Erfahrungen auf dem Feld der Verteilung des Wohlstands und des Rechts auf Arbeit berufen. Frauen sind in diesem Land hoch angesehen, und ihre Rechte werden von allen Gesetzen und der Gesetzgebung garantiert.«

* Aus: neues deutschland, 25. November 2011


Der erste Schuß

Rebellen nicht im neuen libyschen Übergangskabinett vertreten. Bürgerkrieg vor der zweiten Runde

Von Rainer Rupp **


Als der Ministerpräsident der neuen libyschen Übergangs-regierung, Abdurrahim Al-Keib, am Dienstag sein neues Kabinett vorstellte, wartete er mit einer handfesten Überraschung auf: Die islamistische Fraktion, die fast die gesamte militärische Kampfkraft des libyschen Nationalen Übergangsrats (NTC) stellte, ist im Kabinett nicht vertreten. Mit dieser Verbeugung vor dem Druck der imperialistischen Westmächte dürfte der NTC den ersten Schuß in der nächsten Runde des Bürgerkriegs abgegeben haben. Am deutlichsten wird die Brüskierung der islamistischen Kräfte durch die Art, wie der insbesondere in Al-Qaida-Kreisen legendäre Feldkommandeur Abdulhakim Belhaj kaltgestellt wurde. Belhaj hatte bereits zur Jahrtausendwende in mehreren Konflikten gegen US-Soldaten militärische Erfahrungen gesammelt und mußte danach im US-Folterlager Guantanamo viele Jahre die Vorzüge der US-amerikanischen Demokratie kennenlernen, wie z.B. Waterboarding. Wegen seiner Erfolge im Bürgerkrieg war er vom NTC als Verteidigungsminister im neuen Kabinett vorgesehen gewesen, was jedoch den westlichen Strippenziehern in Washington, Paris und London viele Kopfschmerzen bereitete. Letztere haben sich offensichtlich durchgesetzt, denn Belhaj ist nicht nur beim Posten des Verteidigungsministers übergangen, sondern überhaupt nicht ins neue Kabinett aufgenommen worden. Dieses setzt sich fast ausnahmslos aus Abtrünnigen der ehemaligen Ghaddafi-Regierung zusammen, ergänzt durch ein paar Stammesälteste, um das Bild politisch etwas aufzuhellen.

Es ist kaum zu erwarten, daß sich die islamistischen Kampfgruppen, die auf seiten der Rebellen die Hauptlast des Bürgerkriegs getragen haben, mit diesem politischen Winkelzug kaltstellen lassen werden. Die Konflikte im neuen Libyen sind damit programmiert. Die Front wird zwischen den islamistischen Rebellen und den abtrünnigen Ghaddafi-Anhängern in der neuen Regierung verlaufen. Letztere hätten auf sich allein gestellt in einem möglichen Bürgerkrieg keine Chance. Mit Hilfe des Westens sähe das schon anders aus. Die neue »rechtmäßige« libysche Regierung bräuchte nur die NATO um brüderliche Hilfe anzurufen. Und für neue Bombardements bedarf es für die NATO nicht einmal mehr eines UN-Mandats.

Genau an einem solchen Szenario strickt die westliche »Wertegemeinschaft« bereits. Am Donnerstag hat UN-Generalsekretär Ban Ki Moon einen Bericht vorgestellt, der den Islamisten ein breites Spektrum von Grausamkeiten, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwirft. Jetzt müssen noch die grausamen Details in den Medien ausgebreitet werden, und schon werden im Westen wieder große Teile der Bevölkerung bereit sein, im Namen von Menschenrechten und Demokratie einem neuen NATO-Bombenkrieg gegen Ziele in Libyen zuzustimmen, auch wenn dadurch die Herrschaft der ehemaligen Ghaddafi-Anhänger in Tripolis untermauert wird.

Schon jetzt heißt es bei anglo-amerikanischen Nachrichtenagenturen, daß die ehemaligen Rebellen genauso verbrecherisch seien wie es die Sicherheitskräfte von Oberst Ghaddafi gewesen wären. Die »guten Libyer« sitzen dagegen in der neuen pro-westlichen Interimsregierung.

** Aus: junge Welt, 25. November 2011


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