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Der Fall von Tripolis

NATO-Bomben, Elitetruppen und der Kampf an der Propagandafront: Wie die libysche Hauptstadt eingenommen wurde

Von Joachim Guilliard *

Der letzte Akt des Aggressionskrieges gegen Libyen scheint nun begonnen zu haben. Von einem »Sieg der Rebellen« oder gar einem »Sturz des Diktators durch das eigene Volk«, wie die taz in der vergangenen Woche frohlockte, kann keine Rede sein. Es war im Kern eine NATO-Offensive, die der Anti-Ghaddafi-Koalition den Weg nach Tripolis ebnete. Während außerhalb Europas und Nord­amerikas die verheerenden Sturmangriffe auf die libysche Hauptstadt und andere Orte klar als imperiales Verbrechen verurteilt wurden, ging die Komplizenschaft westlicher und arabischer Medien über das bisherige Maß hinaus, sie wurden Teil der massiven psychologischen Kriegführung (siehe jW vom 29.August). Unabhängig davon, wie weit sich die Militärallianz durchsetzt, ist der Krieg noch lange nicht zu Ende. Die kriegführenden NATO-Mächte bereiten nun offensichtlich den Einsatz regulärer Bodentruppen vor.

Anfang August war das Image der libyschen Aufständischen auch im Westen stark ramponiert. »Gebeutelt durch innere Kämpfe« und »unterminiert durch das rücksichtslose und undisziplinierte Verhalten ihrer Milizen« scheine der Aufstand gegen Oberst Ghaddafi in einen trüben Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Fraktionen und Stämmen überzugehen, schrieb noch am 13.August die New York Times. In der Tat schien der Krieg sich zunehmend zuungunsten der NATO zu entwickeln. Frankreichs Verteidigungsminister Gérard Longuet sprach im Fernsehen sogar schon von einem »Scheitern der militärischen Operation«. Auch sein britischer Kollege bezweifelte offen, daß die Rebellen aus eigener Kraft die Hauptstadt einnehmen könnten. Sie setzten seit langem vorwiegend darauf, durch das Aushungern und das Dauerbombardement die Bewohner Tripolis’ zum Aufstand zu bewegen oder einen »Palast-Coup« gegen Ghaddafi zu erreichen.

Ramadan-Offensive

Mit dem Beginn des islamischen Fastenmonats begann die Kriegsallianz eine für alle Beobachter überraschende Offensive. Innerhalb weniger Tage gelang Rebellenmilizen und aufständischen Stammeskämpfern das Vordringen in strategisch wichtige Städte rund um die Hauptstadt. Die Versorgungslinien nach Tripolis, wo die Lage ohnehin schon dramatisch schlecht war, wurden weitgehend unterbrochen. Überraschend schnell gelang es schließlich den Aufständischen, am 21.August in Tripolis einzudringen.

Ausschlaggebend für diese Erfolge waren jedoch nicht ein plötzliches Erstarken der Rebellen, sondern die Intensivierung und Ausweitung des ­NATO-Krieges. Die acht kriegführenden ­NATO-Mächte verstärkten ihre Luftangriffe und konzentrierten sie auf die Vormarschroute der Rebellenverbände. Sukzessive bombten sie diesen so den Weg frei – sie »weichten« die Angriffsziele für die Rebellen »auf«, wie es Derek Flood vom US-Thinktank Jamestown Foundation bezeichnet. Ein solches »Aufweichen« durch flächendeckende Bombardierung kostete allein in dem Dorf Majer nahe der umkämpften Stadt Sliten über 80 Männer, Frauen und Kindern das Leben.

Beim Vorrücken in die Städte griffen dann Kampfhubschrauber mit ihrer ungeheuren Feuerkraft direkt in die Bodenkämpfe ein.

Wie schon in den fünf Monaten zuvor bestand die Hauptaufgabe der Rebellenmilizen darin, durch ihr Vorrücken die Verteidiger zu einer Reaktion zu zwingen. Sobald diese begannen, sich den Angreifern entgegenzustellen, wurden sie von Kampfjets und Hubschrauber unter Feuer genommen. Man wird wohl nie erfahren, wie viele tausend, praktisch wehrlose Verteidiger der libyschen Souveränität dabei massakriert wurden – viele, als sie bereits auf dem Rückzug waren. So versenkten ­NATO-Jets mehrfach Boote, auf denen libysche Soldaten aus unhaltbar gewordenen Stellungen zu entkommen suchten. Daß regierungstreue Kräfte trotzdem fünf Monate lang die Verteidigungslinien halten konnten, zeugt von bemerkenswertem Mut und Entschlossenheit weiter Teile der Bevölkerung, das bisherige Gesellschaftssystem zu schützen. Sie wußten sehr gut, was für das Land auf dem Spiel steht.

Eine Gruppe Reporter der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua konnte sich von Tunesien bis Tripolis durchschlagen und dabei die jüngsten Zerstörungen besichtigten. Von Zawija, einer der lang umkämpften, strategisch wichtigen Städte nahe Tripolis, war demnach nicht viel übriggeblieben. Alle Gebäude entlang der Straße waren zerbombt und ausgebrannt, die Mauern übersät mit Einschußlöchern. Eine ganze Reihe von Gebäudekomplexen war völlig dem Erdboden gleichgemacht. Auch in Tripolis sahen sie umfangreiche Verwüstungen durch NATO-Bomben an den Einfallstraßen.

Die Angriffe aus der Luft allein hätten die Wende nicht bewirkt. Spezialeinheiten der NATO-Mächte übernahmen auch am Boden die führende Rolle. Der israelische Militärinformationsdienst DebkaFile’s berichtete als erster, daß an der Spitze der Sturmangriffe auf Tripolis britische, französische, jordanische und katarische Elitetruppen standen. Großbritannien setzte demnach Kommandos des Special Air Service (SAS) ein, Frankreich »2REP«-Fallschirmjäger-Einheiten und Jordanien die »Königlichen Spezialkräfte«, die auf Straßenkämpfe und Angriffe auf befestigte Stellungen wie Ghaddafis Militär-Komplex spezialisiert seien. Angaben von DebkaFile sind aufgrund seiner Nähe zu israelischen Geheimdiensten mit Vorschicht zu genießen, sie wurden jedoch bald von der US-Nachrichtenagentur AP, britischen Zeitungen und der New York Times bestätigt.

CIA-»Instrukteure«

Die CIA und andere US-Geheimdienste haben schon vor Beginn und während des Krieges, so AP weiter, Informationen mit Hilfe von Kontaktpersonen gesammelt, die sie angeworben hatten, als sie mit der Ghaddafi-Regierung bei der Bekämpfung Al-Qaida-naher, islamistischer Gruppen in Libyen zusammenarbeiteten. Der Einsatz ihrer »Instrukteure« zielte nicht nur auf die Erhöhung der Schlagkraft, sondern wie US-Offizielle andeuten, auch auf die politische Kontrolle. Die plötzliche »Verbesserung der Operationsfähigkeit« und »Koordination der Kampftätigkeit« der Rebellen-Milizen ließe sich nach Ansicht von Militärexperten ohne Beteiligung ausländischer Bodentruppen auch gar nicht erklären. Mit dem zunehmendem Einsatz von bewaffneten US-Predator-Kampfdrohnen sei der Weg für die vorrückenden Rebellen freigeräumt worden. Die Killer-Drohnen konnten auch in Stadtnähe »Präzisionsschläge« durchführen und so den Rebellen einen raschen Vormarsch durch Zawiya auf Tripolis ermöglichen.

Der britische Guardian (23. August) berichtete von der Beteiligung »einer Anzahl« aktiver Mitglieder britischer Spezialkräfte als auch von ehemaligen Soldaten des SAS, die schon lange als Söldner im Land sind. Auch Elitetruppen aus Frankreich, Katar und Jordanien seien wohl mit von der Partie. Der Telegraph (24. August) nennt bzgl. britischer Eliteeinheiten noch weitere Details. Unter der Schlagzeile »SAS führt die Jagd nach Ghaddafi an« meldet er, Quellen des Verteidigungsministeriums hätten nun bestätigt, daß Einheiten des 22.SAS-Regiments seit »mehreren Wochen« in Libyen im Einsatz sind und eine »Schlüsselrolle« beim »Fall von Tripolis« gespielt hätten. Nachdem der größte Teil der Hauptstadt in den Händen der Rebellen sei, hätten die SAS-Truppen, die in arabischer Zivilkleidung und mit denselben Waffen wie die Rebellen operieren, nun den Auftrag, Ghaddafi zu finden.

Eine Hauptfront beim Angriff war offensichtlich die der Propaganda. Völlig übertriebene oder erfundene Erfolgsmeldungen, von den internationalen Medien bereitwillig wiedergegeben, zielten darauf, Panik unter den Bewohnern der angegriffenen Städte zu verbreiten und das Gefühl der Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstands zu vermitteln. U.a. setzte die Kriegsallianz auch Massen-SMS an die Bewohner der angegriffenen Städte ein, die moderne Variante des Flugblatt­abwurfs aus dem klassischen Arsenal der psychologischen Kriegsführung.

Da NATO-Bomben die staatlichen Radio- und Fernsehsender nahezu außer Betrieb gesetzt hatten, waren die Möglichkeiten der Regierung zu Richtigstellungen begrenzt. Die Wirkung des durch das Echo in den internationalen Medien vielfach verstärkten psychologischen Krieges dürfte daher erheblich gewesen sein.

Allein der Bluff mit der Falschmeldung über die Gefangennahme der Ghaddafi-Söhne, die weltweit verbreitet und vom Internationalen Strafgerichtshof bekräftigt wurde, hätte ihnen einen erheblichen politischen und militärischen Vorteil verschafft, verkündete stolz der Chef des Übergangsrats, Mahmud Dschibril. Viele Soldaten hätten daraufhin den Kampf aufgegeben. Die Blamage durch das plötzliche Auftauchen von Ghaddafi-Sohn Saif Al-Islam vor der internationalen Presse in Tripolis verärgerte jedoch z.B. die New York Times so, daß sie sich einen Artikel über die »Welle von Desinformationen« erlaubte.

* Aus: junge Welt, 30. August 2011


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