Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ein Auge für die Revolution

Im Al-Khadra-Krankenhaus in Tripolis liegen Verletzte der Kämpfe um Sirte

Von Martin Lejeune, Tripolis *

Der Krieg in Libyen hat auf beiden Seiten zahlreiche Opfer gefordert. Zwar kann niemand sagen, wie viele Tote und Verletzte es insgesamt gegeben hat, aber sichtbare Tatsache ist, dass die Krankenhäuser überfüllt sind mit Verletzten.

Von 30 000 Getöteten und 50 000 Verletzten hatte Nadji Barakat, letzter Gesundheitsminister der Gaddafi-Regierung, im September gegenüber der Nachrichtenagentur AP gesprochen. Die Zahl dürfte sich seitdem noch beträchtlich erhöht haben. Entsprechend groß ist der Bedarf an finanzieller und medizinischer Hilfe für die Opfer. Sowohl am Geld als auch an der ärztlichen Versorgung mangelt es.

In der Hauptstadt veranstalteten 50 libysche Wohlfahrtsorganisationen daher vor einigen Tagen ein »Tripolis-Festival«, ein Benefizkonzert auf einem großen Platz am Shahab-Hafen. Auf einem riesigen Basar wurden »Revolutions-Accessoires« wie Schals, Mützen, Halsketten und Anstecker in den Farben der Fahne des Nationalen Übergangsrates (NTC) verkauft. Auf der Bühne sang ein Kinderchor Revolutionslieder.

Die Spenden der 10 000 Besucher kommen der Kriegsopferfürsorge zugute, versicherte Mohammed Tresh, Sprecher des NTC in Tripolis, der den Erfolg des Festivals als ein Symbol der »Wiederauferstehung der Zivilgesellschaft in Libyen« verkaufte. Der Eintritt zur Party kostete immerhin 40 Dinar, beinahe der Wochenlohn eines Arbeiters. Doch für die zahlreichen Opfer unter Gaddafis Soldaten finden nirgendwo Benefizveranstaltungen statt.

Auf dem Festivalplatz feierten verletzte Rebellen wie Hamza (23), der im persönlichen Gespräch berichtet, er habe 26 Tage in Sirte, der zuletzt eroberten Stadt, gekämpft. Dabei hat er sein rechtes Auge verloren. »Das war es mir wert, denn ich habe für die Befreiung meines Volkes gekämpft«, sagt Hamza, der nach dem Ende des Krieges gerne wieder studieren möchte.

Wer sich von der misslichen Lage der Verletzten im neuen Libyen ein Bild machen möchte, fährt mit dem Aufzug in das siebte Stockwerk des Al-Khadra-Krankenhauses in Tripolis. Hier werden unter der strengen Bewachung mit Kalaschnikows patrouillierender NTC-Soldaten die Gaddafi-Kämpfer aus Libyen und anderen afrikanischen Ländern bewacht. Zu viert in einem kleinen Krankenzimmer liegen etwa nebeneinander ein Sudanese, ein Ägypter, ein Togolese und ein Marokkaner. Ima, der auch auf dieser Station liegt, ist 24 und kommt aus Mali. Er kauert auf seinem Krankenbett und atmet schwer. Sein Kopf ist gesenkt, er blickt dorthin, wo einmal sein rechtes Bein war. Auch sein linker Arm fehlt. Sein rechter Arm ist zudem vollauf verbunden. Gesicht und Körper sind von Narben gezeichnet.

Über sich erzählt er dem Autor erst etwas, als die Aufpasser des NTC für einen Moment auf den Flur gehen, um zu rauchen. Dann wispert der arg verängstigte Mann: »Ich fürchte mich davor, dass ich nach meinem Krankenhausaufenthalt in ein Abu-Ghoreib-Gefängnis oder Guantanamo-Lager komme.« Damit sei ihm gedroht worden, als er im Ibn-Sina-Krankenhaus nach seiner Gefangennahme in Sirte zu sich gekommen sei. Auf die Frage, weshalb er in Gaddafis Armee angeheuert habe, antwortet er: »Ich komme aus einer armen Familie in einem armen Land. Mit dem Sold konnte ich ihr ein besseres Leben ermöglichen.« Als die beiden Bewacher wieder in Imas Zimmer kommen, sagt er, er werde »gut behandelt von den Revolutionären« und sei ihnen für die medizinische Versorgung dankbar.

Im Nachbarzimmer liegt Taher (27) aus Kakkla, einem Dorf in den Bergen. Der Libyer sagt, er habe sich nicht aus Überzeugtheit von Gaddafis Politik in der libyschen Armee verpflichtet, sondern weil er arbeitslos gewesen sei und anstelle seines kranken Vaters für die Familie habe sorgen müsse. Taher hat vor 15 Tagen in Sirte sein linkes Bein verloren. Das rechte versuchen die Ärzte noch zu retten, es ist geschient, Schrauben halten Knochen zusammen.

Die verletzten Libyer in Gaddafis Truppen haben zumindest noch ihre Familie, die im günstigsten Falle für die notwendige Versorgung aufkommen kann. Das schwerste Los in dieser Zeit trifft die verletzten Ausländer, die bei einem Teil der NTC-Kämpfer verhasst sind und von ihren Familien im Ausland keine Versorgung zu erwarten haben.

Während neben dem Bett des libyschen Gaddafi-Kämpfers Taher ein MP3-Player, Safttüten und Speisen liegen, steht auf dem Nachttisch von Ima aus Mali nur ein Glas Wasser.

* Aus: neues deutschland, 27. Oktober 2011


Bitte weiterbomben!

Libyscher »Übergangsrat« möchte Fortsetzung der NATO-Angriffe. Immer mehr Massengräber entdeckt. Katar räumt Einsatz von Bodentruppen im Bürgerkrieg ein

Von André Scheer **


Die NATO soll ihren Krieg gegen Libyen zumindest bis Jahresende fortsetzen. Das forderte der Chef des »Nationalen Übergangsrats« (NTC), Mustafa Abdel Dschalil, am Mittwoch in Doha bei einer Konferenz mit den Staaten, die sich daran militärisch beteiligen. Dabei machte Dschalil sich nicht einmal mehr die Mühe, auf eine Gefährdung der Zivilbevölkerung durch Truppen des am vergangenen Donnerstag ermordeten langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi zu verweisen, die der NATO als Vorwand für ihre Einsätze dient. Vielmehr müsse es darum gehen, die Flucht von Ghaddafi-Getreuen ins Ausland zu verhindern, so Dschalil. Die Militärallianz verschob daraufhin ihren Beschluß über eine Beendigung des Einsatzes auf den morgigen Freitag.

Trotz der am Wochenende offiziell verkündeten »vollständigen Befreiung« Libyens ist die Position des NTC in Libyen offenbar längst nicht so stabil, wie es die meisten internationalen Medien darzustellen versuchen. So wies der US-amerikanische Nachrichtendienst Stratfor am Mittwoch darauf hin, daß der NTC zwar von zahlreichen Regierungen mittlerweile als Vertretung des libyschen Volkes anerkannt worden sei, tatsächlich jedoch nur »eine von mehreren politischen Kräften« in dem nordafrikanischen Land sei. »Seit die Rebellentruppen am 21.August in Tripolis eingedrungen sind, gibt es dort eine zunehmende Zahl bewaffneter Gruppen, die die Autorität führender NTC-Mitglieder in Frage gestellt haben«, heißt es in einer von dem Dienst verbreiteten Analyse. Eine friedliche Lösung der Spannungen hält Stratfor für »unwahrscheinlich«.

Auch die Ghaddafi-Anhänger wollen ihren Widerstand gegen die neuen Herren nicht aufgeben. Eine bislang unbekannte »Libysche Befreiungsfront« habe erklärt, sie habe die Explosion von zwei Treibstofftanks am Montag in Sirte ausgelöst, berichtet die algerische Nachrichtenagentur ISP. Dabei waren rund 100 Menschen getötet worden. Die der gestürzten libyschen Regierung nahestehende Internetseite Libia-S.O.S. kündigte für die kommenden Tage »gute Nachrichten des Widerstandes« an.

Unterdessen mehren sich die Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen durch die neuen Machthaber. Bereits am vergangenen Sonntag berichtete die Washington Post, derzeit befänden sich rund 7000 Kriegsgefangene in den Händen der NTC-Truppen, die in den überfüllten Lagern auch Opfer von Folterungen würden. Am Mittwoch wurde zudem bekannt, daß nahe der lange umkämpften Stadt Sirte und in Tripolis weitere Massengräber mit mehreren hundert Opfern außergerichtlicher Hinrichtungen entdeckt wurden. Die Gesamtzahl der dort verscharrten Leichen bezifferte der Fernsehsender Al-Arabija auf bis zu 900, bei denen es sich vor allem um Ghaddafi-treue Soldaten gehandelt haben soll.

Katar hat unterdessen eingeräumt, auch direkt mit Bodentruppen in den libyschen Bürgerkrieg eingegriffen zu haben. Die Zahl der dort mit den Rebellen kämpfenden katarischen Soldaten sei in die Hunderte gegangen, sagte der Generalstabschef des Emirats, Hamad Bin Ali Al-Atija gegenüber Al-Arabija. Äußerungen von Spaniens Verteidigungsministerin Carme Chacón am Dienstag abend legen nahe, daß auch andere Länder noch stärker an dem Krieg beteiligt sind, als bisher bekannt war. Mit Blick auf die bevorstehende NATO-Entscheidung sagte sie, die spanischen Soldaten »auf libyschem Gebiet« würden bis spätestens 31.Oktober in ihr Heimatland zurückkehren.

* Aus: junge Welt, 27. Oktober 2011


Zurück zur Libyen-Seite

Zur NATO-Seite

Zurück zur Homepage