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NATO leugnet Kriegstote

Militärpakt lobt Libyen-Einsatz als fehlerlos: "Keine bestätigten Informationen über zivile Opfer". Übergangsrat spricht von bisher 30000 Toten und 50000 Verletzten

Von Rüdiger Göbel *

Die NATO hat eine neue Sprachregelung gefunden zur Negierung von Kriegstoten. Waren zivile Opfer im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien 1999 vom damaligen Sprecher des westlichen Militärpakts, Jamie Shea, noch als »Kollateralschaden« bezeichnet worden, werden sie im Fall Libyens einfach komplett geleugnet. Wer stirbt, ist automatisch Kombattant. Mehr als 22000 Einsätze hat die NATO seit Ende März gegen das nordafrikanische Land geflogen, bisher 8256mal wurde es bombardiert. Für NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verlief die ganze Operation klinisch rein. Man habe »keine bestätigten Informationen über zivile Opfer«, erklärte der Chef der Kriegsallianz bei einem Besuch in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon am Donnerstag (8. Sept.). Der Libyen-Einsatz sei fehlerlos gewesen und »sehr behutsam« durchgeführt worden. Bei einer Wiederholung »würden wir heute, glaube ich, nichts anders machen«, so Rasmussen. »Der Einsatz war ein Erfolg«, ein Massaker sei verhindert und sehr viele Menschenleben seien gerettet worden.

Sehr viele Menschenleben gerettet? Tatsächlich ist der NATO-geführte Krieg ein blutiges Gemetzel. Ende August hatte ein Rebellenkommandeur die Zahl der Kriegstoten auf 50000 geschätzt. Nadschi Barakat, der als Gesundheitsminister des Übergangsrats der NATO-gestützten Aufständischen firmiert, sprach nun von mindestens 30000 Menschen, die in den vergangenen sechs Monaten getötet wurden. Weitere 50000 Menschen seien im Kriegsverlauf verletzt worden. Im Gegensatz zu bisherigen groben Schätzungen basierten diese Zahlen zum Teil auf Berichten von Krankenhäusern, Beamten vor Ort und ehemaligen Kommandeuren der Rebellen. Eine vollständige Aufstellung der Opfer werde es wohl erst in mehreren Wochen geben, so Barakat. Er rechnet damit, daß die Opferzahlen nochmals steigen werden. Mindestens 4000 Menschen gelten noch als vermißt – und der Krieg ist lange noch nicht zu Ende.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dankte der NATO für die Kriegführung. »Ich habe tiefen Respekt für diesen Einsatz. Im übrigen hat unsere Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zu keinem Zeitpunkt Neutralität bedeutet«, betonte die CDU-Vorsitzende am Freitag (9. Sept.) in Berlin.

Der Chef der selbsternannten libyschen Übergangsregierung warnte unterdessen vor internen Machtkämpfen auf seiten der Aufständischen und rief diese zur Geschlossenheit auf. Der Kampf sei noch nicht vorüber, erklärte Mahmud Dschibril bei seinem ersten Besuch in der Hauptstadt Tripolis seit dem Sturz Muammar Al-Ghaddafis. Erst wenn dessen Anhänger vollständig besiegt seien, »kann das politische Spiel beginnen«, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters Dschibril. Der US-Geheimdienst CIA und Agenten aus anderen westlichen Ländern beteiligen sich mit kleinen Teams an der Jagd auf den gestürzten Revolutionsführer. Damit die rechtsstaatliche Fassade gewahrt bleibt, hat die internationale Polizeiorganisation Interpol den früheren libyschen Staatschef, dessen Sohn Saif Al-Islam sowie den früheren Geheimdienstchef Abdullah Al-Senussi am Freitag offiziell zur Fahndung ausgeschrieben.

Den Städten Bani Walid, Sirte und Sabha droht der »totale Kampf« (dapd). Anhänger Ghaddafis hätten bis zu diesem Samstag Zeit, sich zu ergeben. »Unsere Männer bereiten sich auf einen Angriff vor, wahrscheinlich morgen«, sagte am Freitag ein Kommandeur des Übergangsrats, Abdel Rasak Al-Nasuri. Reuters berichtete am Freitag bereits von schweren Gefechten.

* Aus: junge Welt, 10. September 2011


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