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"Was nach Ghaddafi kommt, ist völlig offen"

Libyens Machthaber wird sich nicht halten können. Keiner weiß, was von den Rebellen zu erwarten ist. Ein Gespräch mit Udo Steinbach *


Prof. Dr. Udo Steinbach war bis 2006 Direktor des Deutschen Orient-Instituts Hamburg. Heute lehrt er an den Universitäten Marburg und Hamburg.

Libyen wird nun seit über elf Wochen aus der Luft bombardiert. Wundert es Sie, wie still und öffentlich fast unbemerkt der Krieg gegen das Ghaddafi-Regime vonstatten geht?

Nein. Es passiert einfach zu wenig, über das sich mit spektakulären Bildern berichten ließe. Und je länger ein Krieg andauert, desto mehr sinkt auch das Medieninteresse.

Aufsehen erregt hat jüngst nur die Darstellung, Ghaddafi versorge seine Truppen containerweise mit Potenzmitteln, um diese für Massenvergewaltigungen in der Zivilbevölkerung aufzuputschen. Was halten Sie davon?

Gar nichts. Solche Vorwürfe müssen von einer unabhängigen Kommission untersucht und bestätigt werden. Solange das nicht geschieht, wirkt das Ganze wie ein weiteres Glied in der Kette an Vorwänden und Erfindungen, die den Militäreinsatz rechtfertigen sollen.

Berichte über den vermeintlichen Aufstand des Volkes gegen den »Schreckensherrscher« in Tripolis gibt es auch keine mehr. Läßt der Westen seine Propaganda schleifen?

Propaganda gab es vor und nach Kriegsbeginn ja nun reichlich. Vielleicht glaubt man, das wirkt noch lange genug nach. Ich vermute allerdings, nach Kriegsende wird sich zeigen, daß das Regime nicht so schlimm gewütet hat, wie man uns glauben machen will. Man brauchte zur Rechtfertigung des Waffengangs einfach ein eingängiges Bild von den Verhältnissen im Land: Eben das vom schrecklichen Ghaddafi, der sein Volk foltert und mordet.

In Ihren Augen stimmt das Bild nicht?

Daß Ghaddafi nach so langer Zeit des Bombardements und der Isolierung noch immer an der Macht ist, läßt sich nur so erklären, daß noch relevante Teile der Armee und auch der Bevölkerung hinter ihm stehen. Ghaddafi hatte über Jahrzehnte viel zu verteilen und tatsächlich so etwas wie einen Sozialstaat begründet, an dem viele partizipieren konnten. Dazu hat er Loyalitäten zu den Stämmen im Westen und Süden aufgebaut und diese materiell unterfüttert. Hier liegt auch der Unterschied zu Tunesien und Ägypten, wo die Herrscher ihre Legitimation weitestgehend verloren hatten.

Was wissen Sie über die sogenannten Rebellen?

Das ist ein bunter Strauß von sozialen, politischen und religiösen Strömungen ohne einheitliche Ideologie: Angefangen bei den Notabeln des Vor-Ghaddafi-Regimes, die sich in den Osten zurückgezogen haben, über jene, die Jahrzehnte im Exil verbracht haben, bis zu denen, die in jüngerer Vergangenheit von Ghaddafi abgerückt sind – also Abtrünnige des politischen und militärischen Apparats. Und die alle zusammen behaupten jetzt, das libysche Volk zu repräsentieren.

Was wissen Sie über die Stärke der Bewegung?

Über ihren Rückhalt in der Bevölkerung habe ich keine Kenntnisse. Klar ist aber, daß sie ohne die massive Unterstützung seitens der NATO militärisch nichts gegen die Ghaddafi-Armee ausrichten könnte. Das erklärt auch den Strategiewechsel des Westens, die Angriffsziele über den UN-Auftrag zum Schutz der Zivilbevölkerung hinausgehend auf militärische und zivile Einrichtungen auszuweiten.

Hat der Westen das Durchhaltevermögen Ghaddafis unterschätzt?

Ja, ganz klar. Man dachte wohl, das Regime fällt so schnell in sich zusammen wie in Tunesien und Ägypten. Außerdem rächt sich jetzt, daß einige europäische Regierungen, allen voran Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, meinten, innenpolitisch Kapital aus der Einmischung in Libyen schlagen zu können. Das Eingreifen beruhte nicht auf einer rationalen Einschätzung der Lage, sondern schuldet sich einer ganzen Kette von Fehleinschätzungen bis hin zu persönlichem Ehrgeiz. Auch die Streitigkeiten innerhalb der NATO um Kosten und Fortgang des Krieges machen deutlich: Der Angriff auf Libyen war falsch.

Gleichwohl wird es handfeste Motive zum Angriff gegeben haben ...

Es geht um eine politische und wirtschaftliche Neuordnung Libyens, versehen mit dem Label demokratisch. Ob man dahin gelangt und wann, ist noch unklar.

Wie geht es weiter?

Die Tage Ghaddafis sind gezählt. Entweder er geht freiwillig, wird eliminiert oder fällt den vorrückenden Truppen der Rebellen in die Hände. Daß das Regime übersteht, ist in höchstem Maße unwahrscheinlich. Nur was danach kommt, ist völlig offen.

Interview: Ralf Wurzbacher

* Aus: junge Welt, 16. Juni 2011


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