Gestrandet auf dem "Flugzeugträger"
Sizilien spielt eine Schlüsselrolle in der Konfrontation zwischen Libyen und dem Westen
Von Tom Mustroph, Mineo *
Der Krieg in Libyen hinterlässt Spuren auf Sizilien. Von den dort gelegenen US-Stützpunkten
Trapani-Birgi und Sigonella werden Luftangriffe auf das nordafrikanische Land geflogen. In der Nähe
der Basen sind Auffanglager für die Menschen eingerichtet, die aus ihren Ländern nach Lampedusa
fliehen und auf ein besseres Leben in Europa hoffen.
Eine Fügung wollte es, dass einige Äthiopierinnen, die in Tripolis als Dienstmädchen arbeiteten, nun
auf Sizilien in früheren Wohnstätten von US-Soldaten untergebracht sind, die jetzt möglicherweise
ehemalige Wohn- und Arbeitsstellen der Frauen im Visier haben. Ein Transparent mit der Aufschrift
»Fuck Capitalism« haben Aktivisten von linken und anarchistischen Gruppen als Kommentar zu
dieser Situation am Eingang des »Dörfchens der Solidarität« in der Nähe von Mineo
zurückgelassen. Es ist Überbleibsel einer Demonstration gegen den Krieg, gegen Rassismus und
gegen die Benutzung Siziliens als »Flugzeugträger«.
Der Ort ist gut gewählt für diesen Protest. In der S-förmigen Wohnanlage lebten bis Ende des letzten
Jahres Hunderte US-Marines aus dem nahen Stützpunkt Sigonella. Nachdem die Army die
Unterkünfte aufgab und diverse Ferienparadiesprojekte scheiterten, erkor Italiens Ministerpräsident
Silvio Berlusconi den Komplex zur Heimstatt für die zu Tausenden in Lampedusa anlandenden
Flüchtlinge. Als geschulter Marketingmann taufte er sie »Dörfchen der Solidarität«.
Im 5000-Einwohnerort Mineo, der auf einem Felsen hoch über der Anlage thront, ist von Solidarität
wenig zu spüren. Bürgermeister Giuseppe Castania befürchtet eine »Überfremdung«, wenn seinem
Ort eine an Einwohnerzahl gleichgroße Ansiedlung dauerhaft zu Füßen gelegt wird. Die Bewohner
Mineos schreckt die Präsenz der Flüchtlinge jedoch nicht so sehr. »80 Prozent der Leute von Mineo
sind ins Ausland gegangen. Viele haben in der Schweiz gearbeitet. Zwei Mal in der Woche fährt ein
Bus direkt von Mineo nach Zürich und Lausanne. Jeder bei uns weiß, was Arbeitsmigration
bedeutet«, erklärt der Wirt der Bar »Eden Latino«. Aber auch er wiegt bedenklich den Kopf und sagt:
»Die Gegend hier ist arm. Wenn die Einwohner schon von hier weggehen, wie wollen sich dann die
Neuankömmlinge ernähren?«
Dass diese Gegend kein guter Ort zum Überleben ist, hat sich auch unter den Insassen des Lagers
herumgesprochen. Die 500 Tunesier, die vergangene Woche unter großer medialer Aufmerksamkeit
von Lampedusa nach Mineo gebracht wurden, sind fast alle verschwunden. »Sie wollten nach
Frankreich. Die meisten haben dort Verwandte«, berichtet Nadar. Er gehört zu einer afghanischen
Gruppe, die aus Kalabrien nach Sizilien verlegt wurde. Seine Fluchtroute über Iran, die Türkei und
Griechenland bis nach Italien ist seit Jahren bekannt. Weil sie weniger spektakulär als die
Anlandungen auf Lampedusa ist, erfährt sie weniger Beachtung. Über die Afghanen wird auch
deshalb weniger berichtet, weil sonst der Misserfolg der NATO-Operation am Hindukusch stärker ins
Bewusstsein treten würde. Der aus Kandahar stammende Hamid, der ebenfalls in Mineo gestrandet
ist, berichtet, dass »überall gekämpft« werde.
Hamid ist nach Europa gekommen, um zu arbeiten, um Geld zu verdienen und auch seiner Familie etwas zu schicken. »Dazu brauche ich Papiere. Die italienischen Behörden halten uns aber hin. Sie
haben Fingerabdrücke genommen und vertrösten uns«, sagt er. Nur weil er und und die anderen
Afghanen nicht illegal durch Europa ziehen wollen, sind sie noch nicht dem Beispiel der Tunesier
gefolgt. Deren Spuren sind in der norditalienischen Grenzstadt Ventimiglia aufgetaucht. Ein
Journalist des Nachrichtenmagazins »Espresso« begleitete einige Flüchtlinge und berichtete, dass
sie ungehindert mit der Eisenbahn nach Frankreich fahren konnten.
Von ihren Schicksalsgenossen aus Lampedusa sind in Mineo nur Flüchtlinge aus Somalia, Äthiopien
und Eritrea übrig geblieben. Seki, Djamila und Tumi gehören zu ihnen. »Wir sind vor einer Woche
aus Lampedusa hier angekommen. Vorher haben wir in Tripolis gelebt und dort als Hausmädchen
bei libyschen Familien gearbeitet. Als dort die Schießereien begannen, sind wir weg«, erzählen die
drei jungen Äthiopierinnen. Die Bedingungen in dem ehemaligen Wohncamp der US-Soldaten finden
sie zwar gut. Aber sie wollen endlich selbst ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie entsprechen dem
Typus jener flexiblen und tüchtigen Arbeitskräfte, die in Deutschland gelobt werden, wenn sie ihre
darbenden Heimatregionen im Osten verlassen, um woanders Lohn und Brot zu finden. Wer jedoch
Afrika oder Asien aus ähnlichen Gründen verlässt, wird in Lager gesteckt und zur Untätigkeit gezwungen.
* Aus: Neues Deutschland, 7. April 2011
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