Großangriff auf Sirte
Neue Kämpfe nach Waffenstillstand. Lage in der libyschen Stadt gilt als "katastrophal"
Von Simon Loidl *
Die Situation in der seit Wochen heftig umkämpften libyschen Hafenstadt Sirte scheint sich weiter zuzuspitzen. Am Mittwoch flammten die Kämpfe nach einer vom Nationalen Übergangsrat verkündeten zweitägigen Feuerpause erneut auf. Ghaddafi-Gegner begannen eine neue Offensive auf die belagerte Stadt.
Die aktuelle Lage in Sirte ist mangels unabhängiger Berichterstatter vor Ort kaum nachvollziehbar. Während Nachrichtenagenturen Kämpfer des Nationalen Übergangsrates zitieren, die versichern, daß sie »eine große Zahl ziviler Opfer vermeiden« wollten, da »die Einwohner von Sirte unsere Nachbarn« seien, beschreiben Hilforganisationen und Ärzte vor Ort die Situation infolge der Belagerung der Stadt durch Kämpfer des Übergangsrats als »katastrophal«.
Anfang der Woche berichtete die Organisation Ärzte ohne Grenzen, daß es in Sirte bereits so viele Verletzte gebe, daß die Ärzte nicht mehr alle behandeln könnten. Zudem fehlten Medikamente, Blutkonserven und Betäubungsmittel. Bereits am Wochenende hatte das Rote Kreuz gemeldet, daß zahlreiche Menschen wegen fehlender medizinischer Versorgung sterben müßten.
Aber nicht nur an Hilfe für Verletzte fehlt es, auch Lebensmittel, Wasser und Treibstoff sind nach Angaben von aus der Stadt Geflüchteten kaum mehr vorhanden. Die Ursache für diese Situation liegt in der rigorosen Abriegelung, die nicht nur die Versorgung der Stadt betrifft, sondern vor Beginn des heute endenden Waffenstillstand auch die Flucht vor den Kämpfen beinahe unmöglich machte. Mehrfach wurde außerdem berichtet, daß selbst Konvois des Internationalen Roten Kreuzes von den Kämpfern des Übergangsrates mit Waffengewalt zur Umkehr gezwungen und nicht in die Stadt gelassen wurden. Eine aus Sirte geflohene Ärztin wiederum sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, daß das Krankenhaus von den Kämpfern des Übergangsrates beschossen worden sei. Die Tripoli Post berichtete, daß wegen des NATO-Bombardements Verwundete oder Kranke häufig nicht zum Krankenhaus gelangen konnten.
Nachdem bereits am 27. September gemeldet worden war, daß Hafen, Flugplatz und ein Militärlager von den »Rebellen« erobert worden seien, konnten diese bislang trotz Dauerbombardierung durch NATO-Flugzeuge keine wesentlichen Teile von Sirte einnehmen. Der Großteil der Stadt und mehrere strategisch wichtige Punkte werden demnach weiterhin von Ghaddafi-Loyalen kontrolliert. Während zahlreiche Bewohner die Feuerpause nutzten, um die Stadt zu verlassen, war dies für viele aufgrund fehlenden Treibstoffes schlicht unmöglich. Angesichts der schlechten Versorgungslage und der durch die NATO-Luftschläge zerstörten Infrastruktur in vielen libyschen Städten ist das weitere Schicksal der Flüchtenden unklar.
Sprecher der Kämpfer des Übergangsrats hatten nicht nur für Sirte eine neue Großoffensive angekündigt. Auch die ebenfalls seit Wochen von Kämpfen erschütterte, 170 Kilometer südöstlich von Tripolis gelegene Stadt Bani Walid soll erneut attackiert werden.
* Aus: junge Welt, 6. Oktober 2011
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