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Heftige Kämpfe um Sirte

Türkei sagt neuer libyscher Führung Unterstützung zu *

Der türkische Ministerpräsident Erdogan ist am Freitag (16. Sept.) zu einem Besuch in Libyen eingetroffen. Die Kämpfer der neuen libyschen Führung haben bei ihrer Offensive auf die Küstenstadt Sirte nach eigenen Angaben schwere Verluste erlitten.

Die Aufständischen in Libyen haben den Aufbau eines demokratischen Staates nach dem Muster der Türkei zu ihrem Ziel erklärt. »Wir wollen ein demokratisches, islamisches Land nach dem Vorbild der Türkei werden«, sagte der Chef des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, am Freitag bei einem Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Tripolis. Dschalil dankte der Türkei für wirtschaftliche und medizinische Hilfe während der Revolution.

Erdogan rief die verbliebenen Anhänger von Muammar al-Gaddafi auf, den Kampf aufzugeben und ein weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Widerstand, der sich gegen den Willen eines größeren Teils des Volks richte, habe keine Aussicht auf Erfolg, sagte Erdogan in der von Fernsehsendern übertragenen Ansprache. »Das ist ein Kampf für Freiheit und Demokratie«, sagte er.

Der türkische Regierungschef sagte der politischen Führung der Aufständischen die Unterstützung seines Landes zu. Türkische Teams würden bald eintreffen, um »Hand in Hand, Seite an Seite« mit den Libyern zu arbeiten. Die türkische Botschaft in Tripolis arbeite bereits seit dem 2. September wieder. Bald werde Turkish Airlines den regulären Flugbetrieb nach Tripolis wieder aufnehmen.

Die UNO will ihr Versprechen wahrmachen und Libyen beim Wiederaufbau helfen: Die Entsendung einer ersten UN-Mission sollte noch am Freitag abschließend besprochen und voraussichtlich auch beschlossen werden.

Die Truppen der libyschen Aufständischen haben am Freitag nach eigenen Angaben bei ihrem Vorstoß auf die Küstenstadt Sirte den Flughafen eingenommen. Mindestens zwölf Rebellen seien bei den Kämpfen um Sirte, die am Vorabend begonnen hatten, getötet worden, berichtete der Fernsehsender Libya Hurra. 59 weitere wurden nach diesen Angaben verletzt. Sirte ist die Geburtsstadt von Gaddafi.

Neue Angriffe starteten die Aufständischen am Freitag (16. Sept.) auch gegen die seit Wochen belagerte Wüstenstadt Bani Walid, 150 Kilometer südöstlich von Tripolis, berichtete der katarische Sender Al Dschasira. Sirte, Bani Walid und die südliche Wüstenoase Sebha gelten als die letzten Hochburgen Gaddafi-loyaler Streitkräfte. In Sirte und Bani Walid leisteten die Gaddafi-Getreuen den bisherigen Vorstößen der Aufständischen zum Teil heftigen Widerstand.

Besonders erbitterter Widerstand sei ihnen aus dem südlichen Vorort Kasr Abu Hadi entgegengeschlagen. Die Rebellen koordinierten ihre Angriffe in Sirte mit der NATO. Die Stadt werde von Gaddafi-Truppen kontrolliert. Die Rebellen hätten sich bislang nach jedem Angriff wieder in sicheres Gebiet zurückgezogen. Einwohner von Sirte sagten, sie hätten in der Nacht heftige Gefechte beobachtet.

Die libysche Zeitung »Qurayna al-Jadida« meldete, bei den Kämpfen in Sirte sei auch der Regierungssprecher Gaddafis, Mussa Ibrahim, getötet worden. Dies wurde jedoch von den Rebellen nicht offiziell bestätigt. Ibrahim hatte sich in den vergangenen Tagen mehrfach mit Durchhalteparolen zu Wort gemeldet. Er hatte erklärt, Gaddafi sei bei bester Gesundheit und bereite die Rückeroberung Libyens vor.

Die Aufständischen hatten die Einwohner der von den Gaddafi-Truppen kontrollierten Städte Sirte und Bani Walid zuerst aufgefordert, die Waffen niederzulegen, um eine friedliche Übergabe der Stadt an den Übergangsrat zu garantieren. Diese Verhandlungen führten jedoch zu keinem Ergebnis. Auch die Stadt Sebha im Süden Libyens ist nicht unter der Kontrolle des Übergangsrates.

* Aus: Neues Deutschland, 17. September 2011


Vormarsch gegen Gaddafis Milizen stockt

Libysche Rebellen erleiden Rückschlag **

Bei ihrem Vormarsch gegen die letzten Gaddafi-Stellungen holen sich die Aufständischen eine blutige Nase. Gaddafis Sprecher droht mit einem »monatelangen Krieg«. Die UN vergeben unterdessen den libyschen Sitz in der Weltorganisation an die Neuen.

Das Wochenende nutzten die Rebellen-Verbände, um sich neu zu sammeln, nachdem sie vor den letzten Gaddafi-Bastionen in Sirte und Bani Walid eine Schlappe erlitten haben. Die letzten Getreuen des gestürzten Diktators Muammar al-Gaddafi leisteten erbitterten Widerstand.

Ein Sprecher Gaddafis drohte den Rebellen mit einem »langen Krieg«, der »Monate« dauern könnte. »Die Schlacht ist noch lange nicht vorbei«, sagte Mussa Ibrahim am Samstag im syrischen Fernsehsender Al-Rai. »Wir haben Waffen und Ausrüstung für einen langen Krieg vorbereitet.« Gaddafi leite persönlich den »Abwehrkampf« gegen die Rebellen, erklärte er. In Wirklichkeit fehlt aber von dem gestürzten Despoten jede Spur.

Ibrahim bezichtigte die NATO, bei einem Luftangriff auf ein Wohnviertel in Sirte 354 Zivilisten getötet zu haben. Das nordatlantische Bündnis trat diesen Vorwürfen entgegen. Kampfjets des Bündnisses hätten eindeutig militärische Ziele bombardiert. Ein Militärsprecher kündigte jedoch eine genaue Prüfung an.

Die Vereinten Nationen haben den Übergangsrat der Gaddafi-Gegner als neue legitime Vertretung des Landes anerkannt. Den bisher dem Gaddafi-Regime vorbehaltenen Sitz sprach die Vollversammlung der 193 UN-Mitglieder in New York den neuen Machthabern zu. Der UN-Sicherheitsrat lockerte die Sanktionen gegen Libyen und billigte die Entsendung einer UN-Mission. Bundesaußenminister Guido Westerwelle begrüßte die Entscheidung.

** Aus: Neues Deutschland, 19. September 2011


UNO unter NATO-Diktat

Von Uli Brockmeyer und Arnold Schölzel ***

Ungeachtet der anhaltenden Kämpfe in Libyen entzog die UN-Vollversammlung am Freitag der Regierung des Landes das Mandat in der UNO. Das Gremium beschloß, den sogenannten Nationalen Übergangsrat als Vertreter Libyens in der UNO einzusetzen. Die meisten westlichen Medien verschwiegen allerdings, daß der Entscheidung eine Debatte voranging, in der sich Vertreter mehrerer Staaten unter Berufung auf das Völkerrecht vehement gegen das Diktat der NATO aussprachen und einen entsprechenden Resolutionsentwurf einbrachten. Dieser Antrag wurde mit 107 gegen 22 Stimmen bei zwölf Enthaltungen abgelehnt.

114 von 193 Mitgliedstaaten, darunter alle NATO und EU-Länder, folgten schließlich der Empfehlung des Mandatsprüfungsausschusses der UNO zur Übergabe des UNO-Sitzes an die Ghaddafi-Gegner. Gegen die Empfehlung stimmten 17 Staaten, darunter Angola, Bolivien, Kuba, DR Kongo, Ecuador, Kenia, Namibia, Nicaragua, Südafrika, Tansania, Venezuela, Sambia und Simbabwe. 15 Staaten enthielten sich, 47 Staaten entzogen sich der Abstimmung.

In der Debatte stellte der Vertreter Angolas »das Verfahren, die Legalität und die Grundsätze« des Mandatsprüfungsausschusses in Frage. Er habe die Geschäftsordnung der Vollversammlung verletzt, in der klar festgelegt sei, daß Anträge auf die Vertretung in der UNO durch den Staats- oder Regierungschef oder mindestens den Außenminister des betreffenden Staates an den Generalsekretär der UNO zu übergeben sind. Vertreter Venezuelas und Kubas erklärten, daß sie jegliche Versuche ablehnten, Libyen zu einem Protektorat der NATO oder des UNO-Sicherheitsrates zu machen. Der venezolanische Botschafter verurteilte in seiner Rede die Militäroperationen zugunsten eines Regimewechsels in Libyen. Die Vollversammlung werde nun aufgefordert, eine Gruppierung anzuerkennen, die unter Anleitung der USA und der NATO agiere und keinerlei moralische oder legale Autorität besitze. Die Anerkennung des Rates durch die Vollversammlung stelle einen »abscheulichen Präzedenzfall« dar, der die elementarsten Prinzipien des Völkerrechts verletze.

Der Vertreter Kubas wies darauf hin, daß die Einmischung und die militärische Aggression der NATO den Konflikt in Libyen verschärft habe. Es sei hinlänglich bekannt, daß die NATO unter dem Vorwand des »Schutzes der Zivilbevölkerung« einen Regimewechsel herbeigebombt habe, wobei Tausende unschuldige Männer, Frauen und Kinder getötet und verletzt wurden. Der Kriegspakt habe auch die Bemühungen der Afrikanischen Union und anderer regionaler Bündnisse um eine Verhandlungslösung torpediert.

Der Vertreter Boliviens betonte, daß bisher nicht einmal die Zusammensetzung des Übergangsrates bekannt sei. Die Vertreterin Nicaraguas forderte, daß das Schicksal Libyens vom libyschen Volk bestimmt werden müsse und nicht durch die NATO.

Der UN-Sicherheitsrat billigte ebenfalls am Freitag auf Antrag Großbritanniens einstimmig eine Lockerung der Sanktionen gegen Libyen. Der Beschluß erlaubt u.a. die Lieferung von Waffen.

Am Sonntag (18. Sept.) scheiterten die Kräfte des Übergangsrats mit einem neuen Anlauf, den Wüstenort Bani Walid zu stürmen. Auch in der Geburtsstadt Muammar Al-Ghaddafis, Sirte, kam es zu heftigen Schußwechseln. Ein Sprecher Ghaddafis erklärte am Samstag, der 69jährige sei weiterhin in Libyen. Bei NATO-Luftangriffen seien in Sirte Wohnhäuser getroffen und 354 Menschen getötet worden, insgesamt hätten die NATO-Bomben binnen 17 Tagen insgesamt mehr als 2000 Menschen das Leben gekostet.

*** Aus: junge Welt, 19. September 2011


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