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Chaos befürchtet

Libyscher Übergangsrat für Rußland unberechenbar. Gespräche über wirtschaftliche Beziehungen angekündigt

Von Andreas Korn, Moskau *

Moskau hatte dem Krieg der westlichen Staatengemeinschaft gegen Libyen nichts entgegenzusetzen. Angebote, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln, liefen ins Leere. Nach der Einnahme von Tripolis durch die Truppen des libyschen Übergangsrates hat sich Moskau nun schnell den neuen Realitäten gestellt und als fünfundsiebzigstes Land den libyschen Übergangsrat anerkannt.

Zur russischen Position vor Beginn des Krieges – kein Veto im Sicherheitsrat gegen die Resolution 1973 – habe es keine Alternativen gegeben, meint der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Konstantin Kosatschow, der sich in seinem Blog »aufrichtig freut«, daß sich das libysche Volk »von der Diktatur befreit hat«. Doch der einflußreiche Außenpolitiker bleibt skeptisch: »Nicht weniger aufrichtig wünsche ich, daß für das Volk selbst nun wirklich alles Unglück endet und keine neue Diktatur oder ein blutiges Chaos triumphiert«. Rußland hat immer wieder die Sorge geäußert, daß islamistische Kräfte in Libyen an Einfluß gewinnen könnten.

Der Afrika-Beauftragte des russischen Präsidenten, Michail Margelow, bezeichnete die auf der Libyen-Konferenz in Paris in der vergangeenen Woche gefaßten Beschlüsse als »insgesamt positiv«. Gegenüber dem russischen Fernsehsender Pervi Kanal erklärte Margelow, die Kontrolle über die Entwicklung in Libyen müsse nun an die UNO übergehen. Doch ob und wann dieser Vorschlag realisiert wird, steht in den Sternen.

Im Kreml gibt man sich zuversichtlich, daß die mit der Regierung von Muammar Al-Ghaddafi geschlossenen Wirtschaftsverträge mit Libyen in Kraft bleiben. Doch Garantien gibt es bisher nicht. Der russische Energieminister, Sergej Schmatko, erklärte lediglich, man prüfe die Möglichkeit, mit der libyschen Regierung Gespräche zu führen. Dabei werde es um die Rückkehr russischer Ölgesellschaften in das nordafrikanische Land gehen.

Mit der militärischen Einmischung in den libyschen Konflikt sei »internationales Recht verletzt« worden, meint der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Konstantin Kosatschow, und die Folgen könnten nicht nur für Libyen »dramatisch« sein. Die neuen Machthaber seien »in ihrer Strategie nach wie vor nicht berechenbar«. So sei bedenklich, daß die Waffenlieferungen aus Libyen an die Hamas im Gazastreifen in letzter Zeit gestiegen seien. Für Rußland bleibe die Frage der militärischen Einmischung ein wichtiges Thema, denn US-Politiker wie Senator John McCain wollten, daß das militärische Eingreifen Schule macht. Der nächste »potentielle Kandidat« – so Kosatschow – sei Syrien.

Die Nesawisimaja Gazeta prognostiziert, daß Rußland und China, die sich im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über Libyen enthalten haben, sich »das nächste Mal strenger verhalten werden«. Denn die UNO müsse in erster Linie politische Lösungen für Krisen finden. Das Risiko einer militärischen Einmischung in Syrien sei, daß das Regime dort »enge Verbindungen« mit dem Iran, der Hisbollah und Hamas habe. »Sie können aus Rache das Leben in Israel beträchtlich erschweren«, schreibt das liberal-konservative Blatt.

Im Fall Syrien scheint Rußland zur Zeit nicht Willens, dem Westen entgegenzukommen. Die »einseitigen« Ölsanktionen der EU gegen Syrien lehnte der russische Außenminister Sergej Lawrow strikt ab. Überhaupt hätten Sanktionen bisher »selten etwas entschieden«.

Diese Haltung ist darauf zurückzuführen, daß Rußland ökonomische Einbußen durch eine chaotische Entwicklung im Nahen Osten fürchtet. Die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Rußland und Syrien sind noch stärker als sie es mit Libyen waren. Während Rußlands Wirtschaftsverträge mit Libyen ein Volumen von zehn Milliarden Dollar hatten, sind die russischen Investitionen in Syrien fast doppelt so umfangreich. Dabei geht es um Projekte in der Infrastruktur, im Tourismus und im Energiebereich. Außerdem unterhält Rußland in der syrischen Hafenstadt Tartus einen Marinestützpunkt, der jetzt modernisiert werden soll.

Der Kreml scheint den schwindenden Einfluß in Nordafrika nun mit einem stärkeren Engagement in Zentralasien kompensieren zu wollen. Letzte Woche nutzte der russische Präsident Dmitri Medwedew einen Auftritt in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, um Stärke zu demonstrieren. Auf einem Gipfel der Präsidenten von Rußland, Pakistan, Afghanistan und Tadschikistan in Duschanbe erklärte Medwedew, daß »unsere Partner«, die nicht aus der Region kommen – gemeint waren die USA und ihre Verbündeten – »sehr wichtig« sind und von ihnen heute »viel abhängt«. Aber man müsse darüber nachdenken, »daß mit der Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Region begonnen wird, damit deren Frieden und Sicherheit sichergestellt wird«.

* Aus: junge Welt, 7. September 2011


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