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Libyen: Noch ein zerfallener Staat?

Von Werner Ruf *


Unser Autor (73) war Professor für internationale Politik an der Universität Kassel.

Wieder muss ein Bösewicht zur Strecke gebracht werden; ist er erst einmal erlegt, wird es Frieden, Glück und Demokratie für das libysche Volk geben. Und auch der Rest der Welt kann sich im Glanz seines moralischen Beitrags zur Gestaltung einer besseren Welt sonnen: Mit rund 20 000 Einsätzen der NATO-Luftwaffe, der besten der Welt, gelang es den libyschen Rebellen, bis Tripolis vorzurücken. Die in die Tausende gehenden »Kollateralschäden« auf Seiten der Zivilbevölkerung werden vielleicht niemals gezählt werden. Auch Moral hat eben ihren Preis.

Als die Protestwelle in den arabischen Ländern Libyen erfasste, bildete sich im Ostteil des Landes ein »Nationaler Übergangsrat«, den Frankreich umgehend und dann in der Folge rund 30 weitere Staaten als die »legitime Vertretung des libyschen Volkes« anerkannten. Dass diese Legitimität sich weder auf Wahlen noch auf eine irgendwie messbare Unterstützung durch das Volk berufen kann, ist eben den Umständen, besser: dem Entscheidungsvermögen der westlichen Regierungen geschuldet. Dem so legitimierten Rat werden nun die Auslandsvermögen Libyens übertragen, denn Gaddafi hatte große Teile der Einnahmen aus dem Ölexport in der staatlichen Libyan Investment Agency angelegt, während die Kleptokraten Mubarak und Ben Ali das gestohlene Volksvermögen in Privateigentum ihrer Familienmitglieder verwandelt hatten. So kann der Rat nun die ihm von den westlichen Freunden gelieferten Waffen bezahlen.

In der pro-revolutionären Begeisterung des Westens wird geflissentlich übersehen oder verschwiegen, dass von den Mitgliedern dieses Rates gerade einmal ein gutes Viertel überhaupt namentlich bekannt ist. Bekannt ist der Vorsitzende Mahmoud Djibril, ein in den USA ausgebildeter neo-liberaler Ökonom. Bekannt ist, dass aus den Reihen der Rebellen der »Oberkommandierende« Abdelfattah Younes mitsamt drei Vertrauten bestialisch ermordet wurde. Seither scheint es kein gemeinsames Oberkommando mehr zu geben, kämpfen doch in Tripolis unterschiedliche Gruppen und Milizen unkoordiniert gegen die verbliebenen Soldaten und Anhänger Gaddafis.

Sicher scheint auch, dass sich unter den drei Vierteln der unbekannten Mitglieder des Rates beinharte Islamisten verbergen, die immer den Kern des Widerstands gegen Gaddafi bildeten und aus deren Reihen die (nach Saudi-Arabien) zweitgrößte Zahl jener Freiwilligen stammten, die in Afghanistan zuerst gegen die Sowjetunion, dann gegen die USA kämpften und in Irak dem islamistischen Widerstand angehörten.

Die Kämpfe in und um Tripolis und die offenbar beginnenden Massenhinrichtungen zeigen, dass die Zukunft Libyens sich in Richtung der Auflösung zentraler Staatlichkeit bewegen könnte, wo unter anarchischen Verhältnissen Stämme, säkulare und islamistische Gruppen sich gegenseitig bekämpfen. Ob Implosion der Staatlichkeit oder Zerfall in zwei oder vielleicht drei Staaten: Der Wiederaufbau der vernichteten Infrastruktur und die vom Westen abhängigen neuen Regime öffnen den internationalen Firmen endlich den ungehindertenZugriff auf die libysche Ölproduktion und vielleicht auch endlich die Möglichkeit zur Spaltung des einzigen Rohstoffkartells der »Dritten Welt«, der OPEC.

* Aus: Neues Deutschland, 27. August 2011


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