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Libyens neue erste Reihe

Anwälte, Generäle, Ökonomen – Gaddafis Nachfolger kämpfen noch um Profil

Von Karin Leukefeld *

Der Nationale Übergangsrat in Libyen steht aus Sicht von Experten vor Risiken und Chancen – eine Folge seiner Zusammensetzung zum Beispiel aus althergebrachten Stammesführern sowie Funktionären von Gaddafis Machtapparat, die übergelaufen sind. Der Rat gilt somit als explosive Mischung.

Noch ist unklar, wie es in Libyen weitergeht, doch eine Forschungsstelle des US-Kongresses hat schon mal eine Wunschliste von Politikern zusammengestellt, die ihrer Meinung nach in der Zeit nach Gaddafi Schlüsselfunktionen in Libyens Machtapparat übernehmen könnten.

Einige waren jahrzehntelang Weggefährten von Muammar al-Gaddafi, andere leisteten fast ebenso lange mühsame Kleinarbeit für Angehörige politischer Gefangener, nicht selten, ohne selbst bedroht worden zu sein. Wer am Ende das Rennen macht, lässt sich derzeit nicht voraussagen. »Jetzt eine Person zu benennen, wäre ins Blaue geunkt. Es wird noch ein Hauen und Stechen geben«, sagt Prof. Andreas Dittmann, Libyen- Kenner und Geograf von der Justus- Liebig-Universität Gießen. In der zunehmend von Medien gelenkten Gesellschaft im Westen haben bekanntlich diejenigen gute Chancen im Wettlauf um die Macht, die mindestens täglich von internationalen Medien gezeigt werden. Für die libysche Gesellschaft, in der die Führer von 140 Stämmen und Minderheitengruppen den Ton angeben, dürfte derjenige zählen, der entweder zu ihrer Sippe gehört oder glaubhaft deren Teilhabe an wirtschaftlicher und politischer Macht zusichert.

Das bekannteste Gesicht ist Mustafa Abdul Dschalil al-Fudhail (59). 2007 hatte Gaddafi ihn in die Regierung berufen, wo er kein Hehl aus seiner Kritik an juristischer Willkür und Verstößen gegen die Menschenrechte machte.

Als am 17. Februar die Unruhen in Bengasi begannen, sandte Gaddafi Dschalil dorthin, um mit den Demonstranten zu verhandeln, doch schon am 21. Februar trat Dschalil von seinem Posten zurück und schloss sich der Protestbewegung an. Kurz darauf übernahm er den Vorsitz des Nationalen Übergangsrates, nachdem ihm von einer Reihe wichtiger Stämme Ostlibyens das Vertrauen ausgesprochen worden war. Dschalil wurde in Bayda geboren, historischer Sitz der Sanussi-Dynastie, die den letzten König Idris stellte. Er studierte in Bengasi Jura und islamisches Recht (Scharia). Bis zu seiner Ernennung zum Justizminister 2007 – auf Anraten von Saif al-Islam, dem Sohn Gaddafis – war er Präsident des Gerichtshofes in Bayda. US-Diplomaten bezeichneten Anfang 2010 Gespräche mit Dschalil als »offen und ermutigend« und merkten an, dass er in seinem Ministerium sehr angesehen sei. Anfang 2010 erklärte Dschalil aus Protest über die anhaltende Inhaftierung von Gefangenen, die freigesprochen worden waren, seinen Rücktritt.

Chef der Übergangsregierung ist Mahmud Dschibril (59). Der Ökonom studierte unter anderem Politikwissenschaften in Ägypten und den USA und unterrichtete in den USA als auch in arabischen Staaten. In Libyen arbeitete Dschibril in der Organisation »Vision von Libyen«, einem Projekt von Saif al- Islam. Diese Denkfabrik sollte die politische und wirtschaftliche Erneuerung Libyens vorantreiben. Seit 2009 war Dschibril Leiter des Nationalen Ausschusses für Wirtschaftliche Entwicklung, der der Privatwirtschaft Impulse geben sollte. Depeschen der US-Botschaft, vom Internet-Portal Wikileaks veröffentlicht, berichten von einigen Niederlagen, die der Chef- Reformer einstecken musste. Von der US-Botschaft in Tripolis wurde er als »ernsthafter Vermittler mit Verständnis für die US-Perspektive « eingestuft.

Ali al-Issawi (45) ist derzeit einer der Sprecher und Außenbeauftragter des Nationalen Übergangsrates. Es heißt, er repräsentiere die jüngere Generation. Allerdings gehörte Issawi auch zu Gaddafis Führungszirkel. Issawi wurde in Bengasi geboren. Als dort die Proteste begannen, war er Botschafter in Indien, wo er aus Protest gegen das Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte rasch zurücktrat. Er hat in Bukarest Ökonomie studiert und wurde 2005 Generaldirektor eines Programms zur Ausweitung der Privatwirtschaft, mit dem die libysche Regierung Unternehmensgründungen finanziell unterstützte. 2006 gründete er das Zentrum zur Exportentwicklung. Im Januar 2007 wurde er – für Handel und Wirtschaft zuständig – zum jüngsten Minister des Landes berufen. Bei einer Kabinettsumbildung 2009 wurde er übergangen, angeblich wegen Korruptionsvorwürfen. Issawi soll dennoch zu einem Schattenkabinett um Saif al- Islam, der als Nachfolger seines Vaters galt, gehört haben.

Abdulhafiz Ghoga ist stellvertretender Vorsitzender des Übergangsrates. Der Anwalt hat sich in der Rebellenhochburg Bengasi einen Namen in Menschenrechtsfällen gemacht, ist aber nicht unumstritten. Die »Revolutionsjugend« verlangte in der vergangenen Woche seine Absetzung, weil er »nicht sympathisch« sei. Saif al-Islam bezeichnete Ghoga in der Londoner arabischsprachigen Zeitung »Asharq Al-Awsat« als Wendehals, der früher mit seinem Vater im Zelt gesessen und dessen Politik in den höchsten Tönen gelobt habe. Auch Ghoga stammt aus Bengasi, wo er Vorsitzender der Anwaltskammer war, als er am 19. Februar verhaftet wurde. Kurz darauf ließ man ihn wieder frei. Er erklärte sich dann zum Sprecher eines selbst ausgerufenen Übergangsrates, der zunächst mit dem von Dschalil konkurrierte. Versehen mit dem oben genannten Posten gab er schließlich sein eigenes Projekt zugunsten des Übergangsrates auf.

General Omar al-Hariri (67) ist zuständig für militärische Angelegenheiten des Übergangsrates. Hariri war an der Erhebung beteiligt, die Gaddafi 1969 an die Macht brachte, wurde aber 1975 wegen der Beteiligung an Putschplänen diesmal gegen Gaddafi zusammen mit 300 weiteren Militärs festgenommen und zum Tode verurteilt. 15 Jahre später wandelte Gaddafi das Urteil in Hausarrest um. In der Rebellenbewegung gilt Hariri als Held. Er gehört dem Farjan- Stamm in Westlibyen an, der besonders einflussreich in und um Sirte, der Geburtsstadt von Gaddafi, ist. Verschiedentlich hat Hariri den Übergangsrat als »Berater« der jungen Generation bezeichnet, die den Aufstand gegen Gaddafi begonnen hat.

Der junge Menschenrechtsanwalt Fathi Terbil Salwa ist im Übergangsrat für Jugendfragen zuständig. Am 15. Februar organisierte er in Bengasi eine friedliche Demonstration, bei der zum wiederholten Mal Gerechtigkeit für die Angehörigen von mehr als 1000 Gefangenen gefordert wurde, die 1996 bei einer Razzia im Abu-Salim- Gefängnis in Tripolis getötet worden waren. Daraufhin nahmen Sicherheitskräfte Terbil fest, woraufhin sich die Demonstrationen ausweiteten und Terbil wieder freigelassen wurde. Dennoch waren diese Proteste das Startzeichen zu den folgenden Ereignissen. Auch Terbil stammt aus Bengasi, wo er Jura studierte.

* Aus: Neues Deutschland, 25. August 2011


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