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Feier oder Offenbarungseid?

Der NATO-Generalsekretär möchte heute die künftige Führung Libyens präsentieren

Von Roland Etzel *

Heute (13. Juli) soll der Vorsitzende der Übergangsregierung der Aufständischen in Libyen, Mahmud Dschibril, zur Beratung mit den ständigen Botschaftern der NATO-Staaten in Brüssel erscheinen. Eigentlich will die NATO damit ihre Beziehungen zur politischen Führung der Rebellen in Libyen demonstrativ aufwerten. Doch es wird wohl auch eine Krisensitzung.

Eine Lösung des Libyen-Konflikts ist weiterhin nicht in Sicht, keine militärische und schon gar keine politische. Das ist ernüchternd, aber eigentlich nicht überraschend. Nicht allein für Gaddafi, auch für die NATO-Streitmacht entwickeln sich die Dinge keineswegs wie gewünscht.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen will den Vertretern des Paktes heute in Brüssel den Mann präsentieren, der offensichtlich derjenige unter den sogenannten Rebellen ist, der ihm als politisches Aushängeschild des »neuen Libyens« noch der akzeptabelste zu sein scheint. »Herr Dschibril wird den Fahrplan für einen Übergang zur Demokratie in Libyen vorlegen«, sagte Rasmussen vor Wochenfrist gegenüber den ständigen Botschaftern der NATO-Staaten in Brüssel.

Neueste Nachrichten über das Gespräch zwischen Rebellen und NATO in Brüssel

Mahmud Dschibril, die Nummer zwei des Nationalen Übergangsrats der Rebellen, ist am 13. Juli zu Gesprächen mit Vertretern von EU und NATO nach Brüssel gereist. Seine Delegation wurde erstmals am Sitz der NATO vom Nordatlantikrat der 28 Botschafter der Mitgliedsländer und von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen empfangen. Die Aufständischen hätten eine "große Verantwortung", Libyen mit einem "weichen Übergang" in eine "demokratische und offene Zukunft" zu führen, erklärte Rasmussen. Die Vertreter des Übergangsrats hätten der NATO "ihre Vision von der Zukunft" des Landes vorgestellt. Diese gründe sich auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Respekt von Menschenrechten.

Der Besuch wurde überschattet von Vorwürfen zu Plünderungen, Brandstiftungen und Gewalt gegen Zivilisten. "Human Rights Watch" warf den Aufständischen vor, bei ihrem Vormarsch auf Tripolis in den vergangenen Wochen Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. Einheiten der Aufständischen seien für Plünderungen, Brandstiftungen und Gewalt gegen Zivilisten verantwortlich, erklärte "HRW" in der Rebellen-Hochburg Bengasi. Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation hätten einige der Vorfälle selbst beobachtet, die sich demnach in den Monaten Juni und Juli bei der Offensive der Rebellen in den Bergen von Nafusa südlich der Hauptstadt Tripolis ereigneten. Dschibril räumte bei seinem Besuch in Brüssel "einige Vorfälle" und Menschenrechtsverletzungen in den ersten Wochen des seit Mitte Februar andauernden Aufstands gegen Machthaber Muammar el Gaddafi ein. Dies sei jedoch "in befreiten Zonen nicht mehr der Fall", ergänzte er.
(Nach AFP, 13. Juli 2011)



Dass der oberste NATO-Repräsentant sich offen auf die Seite der Gaddafi-Gegner stellt und für sie um Unterstützung jeglicher Art wirbt, wird mittlerweile als nichts Sensationelles mehr empfunden. Vor einem Vierteljahr allerdings wurde das noch von seiten des Bündnisses empört als bösartige Unterstellung zurückgewiesen. Man habe nicht vor, so NATO-Vertreter damals, sich in innerlibysche Auseinandersetzungen einzumischen. Man sehe lediglich mit Sorge, dass das libysche Regime mit seiner Luftwaffe gegen Zivilisten in Städten vorgehen wolle, die Gaddafi die Gefolgschaft verweigern. Deshalb plädiere man für die Einrichtung einer Flugverbotszone über dem Land.

Aus der durch den UN-Sicherheitsratsbeschluss 1973 völkerrechtlich legitimierten Zone wurde – von Tag zu Tag etwas mehr – ein Luftkrieg gegen die regulären Streitkräfte Libyens, um einen Machtwechsel zu erzwingen. Offiziell ist es »eine internationale Militärkoalition, die angetreten ist, libysche Zivilisten vor Machthaber Muammar al-Gaddafi und seinen Truppen zu schützen«. Faktisch sind es vor allem Frankreich und Großbritannien, die mit logistischer Stützung der US-Mittelmeerstreitmacht und beifälliger Solidarität der übrigen Bündnispartner Gaddafi stürzen wollen.

Seit Beginn der Luftangriffe am 19. März flogen NATO-Kriegsflugzeuge über 14 000 Einsätze. Das erwünschte Ziel ist indes nicht erreicht. Damit hatten bei der NATO wohl nur wenige gerechnet. Insbesondere nach Gaddafis recht skurrilen Fernsehauftritten noch im März schien sein politisches Ende nur noch Tage entfernt, doch ist seine Basis wohl keineswegs so schmal wie im Westen behauptet und erwünscht.

Besonders verärgert darüber dürfte Nicolas Sarkozy sein. Es ist ein offenes Geheimnis, dass dem französischen Präsidenten ein Jahr vor den Wahlen vorschwebte, mittels eines – fast – im Alleingang errungenen, also mit seinem Namen verbundenen Sieges für die Menschenrechte aus seinem Umfragetief herauszukommen. Diese Hoffnung dürfte bereits jetzt zerstoben sein. Zu allem Überfluss musste er sich gestern auch noch einer Parlamentsdebatte zum Thema Libyen stellen. Die konnte er nicht verhindern, denn laut französischer Verfassung muss die Nationalversammlung über die Fortsetzung jedes Militäreinsatzes abstimmen, der nicht binnen vier Monaten beendet ist.

Seine komfortable Mehrheit wird Sarkozy dieses Votum ungeschoren überstehen lassen. Die immer stärkere öffentliche Kritik am anfangs nahezu parteiübergreifend unterstützten Kriegsabenteuer kann jedoch kein Parlamentsbeschluss wegwischen. Der Krieg kostet viel mehr Zeit und Geld als versprochen, und dass es Sarkozy in Libyen kaum um Menschenrechte geht, scheint auch einer Mehrheit der französischen Wähler inzwischen einzuleuchten. Die Umfragen sprechen eine deutliche Sprache.

Die USA verhalten sich zudem gegenüber Sarkozys Kriegslust weiterhin reserviert und lassen keinerlei Ambitionen erkennen, den Partner in der Führung der Kriegskoalition abzulösen. Uneingestanden verhandelt Frankreich inzwischen mit Gaddafis Abgesandten. Außenminister Alain Juppé bestreitet das zwar noch und räumt lediglich »Kontakte« und keine »echten Verhandlungen« ein.

Doch wie auch immer – es ist kompliziert.. Zu lange hat Paris auf einen schnellen Sieg spekuliert und die Rebellen ermutigt, jegliche Verhandlungen mit Gaddafis Leuten ebenso wie Vermittlungsversuche der Afrikanischen Union brüsk auszuschlagen.

Nun ist der libysche Staatschef wahrlich kein Unschuldsengel. Trotz aller Sozialpolitik ist die Kladde seiner Menschenrechtsverletzungen ähnlich lang wie die seiner Diktatorennachbarn Ben Ali und Mubarak. In den westlichen Medien allerdings, nicht zuletzt den deutschen, wurden Gaddafi und sein Clan nach einem Verfahrensmuster skandalisiert, wie es bisher höchstens gegen Saddam Hussein und Milosevic aufgezogen wurde. Größtenteils ohne Beweise wurden den Gaddafis auch die abscheulichsten Verbrechen unterstellt, um sie als Verhandlungspartner zu diskreditieren.

An der Pattsituation in Libyen vermochte dies freilich wenig zu ändern. Der Westen wird deshalb kaum umhinkommen, sich eine gewisse Scheinheiligkeit einzugestehen. Einerseits fordert er »Verhandlungen zwischen beiden Konfliktparteien«. Anderererseits erklärt er eine dieser Seiten, nämlich die Gaddafis, für dialogunwürdig. Beides geht nicht zusammen, und das ist wohl auch so gewollt.

So blieben auch die jüngsten Vermittlungsbemühungen des zuständigen UN-Gesandten ergebnislos. »Der Verhandlungsprozess hat begonnen, allerdings sind wir bedauerlicherweise noch weit davon entfernt, eine Lösung zu finden«, erklärte der frühere Außenminister Jordaniens, Abdul Ilah al-Khatib, am Montag in New York. Die NATO-Vertreter müssten also heute in Brüssel die gepäppelten und als Helden gefeierten Rebellen auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Doch wer will dieses Eingeständnis als erster machen?

* Aus: Neues Deutschland, 13. Juli 2011


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