Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Aufständische auf dem Rückzug

Warten auf "Sarkozys Flugzeuge"

Nach tagelangem Vormarsch haben die Aufständischen in Libyen angesichts des Widerstands der Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi gewonnenes Terrain wieder aufgeben müssen. Sie zogen sich am Dienstag auf Positionen rund 100 Kilometer von der Stadt Sirte entfernt zurück, wie ein AFP-Korrespondent berichtete. Am Montag waren sie bis auf 60 Kilometer an Gaddafis Geburtsstadt herangekommen. Mehrere Aufständische sagten, sie wollten nun auf »den Beschuss aus Flugzeugen von Sarkozy« warten. Dann solle der Vormarsch fortgesetzt werden.

Auch BBC-Reporter berichteten, dass die Aufständischen nicht über die Stadt Bin Dschawwad hinausgekommen seien. Die zeitweise heftigen Gefechte mit Gaddafi-treuen Truppen veränderten die Frontlinien kaum. Die Pro-Gaddafi-Verbände hatten am Vortag einen Vorstoß der Rebellen auf Sirte aufgehalten. Die militärisch unterlegenen und unzureichend organisierten Aufständischen hatten schon am Sonntag unter der Deckung alliierter Luftangriffe Bin Dschawwad eingenommen. Der Ort an der Mittelmeerküste liegt 400 Kilometer westlich von Bengasi, der wichtigsten Metropole der Regimegegner.

Die libyschen Behörden behaupteten, dass durch die Luftangriffe der Alliierten »Dutzende« Zivilisten und Militärangehörige getötet worden seien. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wiederum hat den Gaddafi-Truppen die gezielte Verschleppung politischer Aktivisten und mutmaßlicher Aufständischer vorgeworfen. Mit der Kampagne hätten die zunehmenden Proteste gestoppt werden sollen. Amnesty führte am Dienstag mehr als 30 Fälle von Gefangenen, Vermissten und Verschleppten auf.

Derweil treibt Frankreich die diplomatische Anerkennung der libyschen Opposition voran. Der Diplomat Antoine Sivan sei auf dem Weg in die Rebellenhochburg Bengasi, um dort seinen Botschafterposten anzutreten, sagte ein französischer Regierungsvertreter am Dienstag. Als erstes Land hatte Frankreich vor fast drei Wochen den oppositionellen Nationalen Übergangsrat als rechtmäßige Vertretung Libyens anerkannt.

Nach dem Ansturm von mehr als 18 000 Flüchtlingen aus Tunesien kommen jetzt die ersten Boote mit Immigranten aus Libyen auf Malta und in Italien an. In zwei Booten erreichten 530 Menschen die Mittelmeerinsel. Weitere 250 sollten in einem beschädigten Boot noch am Dienstag in den Hafen von Valletta geleitet werden. Vor allem Menschen aus Eritrea und Somalia seien an Bord. Sie hatten in Libyen gearbeitet und sind vor den blutigen Kämpfen in dem nordafrikanischen Land geflohen. Vor Pozzallo auf Sizilien lief ein libyscher Fischkutter mit mehr als 450 Menschen aus Tripolis an Bord auf Grund.

* Aus: Neues Deutschland, 30. März 2011


Libyen-Konferenz ohne Libyer

Londoner Treffen drängt auf Gaddafis Abgang

Von Olaf Standke **


Während die NATO morgen früh das Kommando über alle internationalen Militäroperationen in und um Libyen und damit auch über die Luftangriffe auf die Truppen von Muammar al- Gaddafi übernimmt, berieten die Außenminister aus über 40 Staaten mit Vertretern des Nordatlantik-Paktes, der UNO und der Afrikanischen Union am Dienstagnachmittag in London über den Krieg und die Zukunft des nordafrikanischen Landes.

Sie nennt sich politische Kontaktgruppe für Libyen. Und man drängte auf arabische und afrikanische Teilnehmer bei ihrem gestrigen Treffen, um den Eindruck eines rein westlichen Militäreinsatzes zu verwischen. Vertreter des Widerstands gegen Gaddafi jedoch fehlten am Londoner Konferenztisch, wo über die Zukunft Libyens beraten werden sollte. Mahmud Dschibril, Sondergesandter des Nationalen Übergangsrates, durfte nicht an den offiziellen Verhandlungen teilnehmen und musste sich mit Gesprächen am Rande des Treffens begnügen.

Zu fragen ist auch, was die Kommandoübernahme durch die NATO nun bedeutet. Bislang agierten die Kampfjets der »Koalition der Willigen« als Luftstreitkräfte der Aufständischen. Ihre Angriffe sollten nach Einschätzung von Alain Délétroz von der International Crisis Group in Brüssel zugleich helfen, Gaddafi zu stürzen, auch wenn das niemand offiziell ausspreche. Der libysche Vize-Außenminister Chaled Kaim warf der NATO vor, Libyen spalten zu wollen. Dies wäre der »Beginn eines neuen Somalia«, sagte er dem italienischen Fernsehen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen betonte immer wieder, dass sich die Allianz allein an den Auftrag gebunden fühle, »Zivilisten und von Zivilisten bewohnte Gebiete vor Angriffen des Gaddafi-Regimes zu schützen«. Nach Informationen des »Guardian« erwäge man in Paris schon, »unilaterale Operationen außerhalb des NATOKommandos weiterzuführen«, falls das Pakt-Vorgehen künftig »zu schüchtern« sei. Russlands NATOBotschafter Dmitri Rogosin hat die Allianz gestern nachdrücklich vor einer »kreativen Auslegung« der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates gewarnt.

Was also wird aus dem »Revolutionsführer «? Erst hatte die saudiarabische Zeitung »As-Sharq al- Awsat« verbreitet, Gaddafi-Sohn Saif al-Islam habe angeblich bei verschiedenen westlichen Regierungen für eine Regelung geworben, die nach einem Waffenstillstand und Verhandlungen mit der Opposition eine Übergangsphase von zwei bis drei Jahren vorsieht, in der Saif die Regierungsgeschäfte seines Vaters übernimmt. Nun berichteten britische Zeitungen, London und Washington würden auch einen schnellen Gang Gaddafis ins Exil akzeptieren, selbst wenn er dann nicht vom Internationalen Strafgerichtshof belangt werden könnte. Einen ähnlichen Vorschlag legte zuvor Rom vor. Gaddafi betonte gestern, er sei bereit, Entscheidungen der Afrikanischen Union zu akzeptieren.

In London hat Außenministerin Hillary Clinton vollmundig die Entschlossenheit der »internationalen Gemeinschaft« bekräftigt, Gaddafi zum Rückzug zu zwingen: »Er muss gehen!« Nur zitierte die »Washington Post« auch US-Regierungsbeamte, die einen Sieg der Rebellen für unwahrscheinlich halten. Wie US-Vizeadmiral William Gortney betonte, sei »die Opposition nicht gut organisiert, sie ist keine sehr robuste Organisation«.

Präsident Barack Obama, der sich wegen des Kriegseinsatzes in Libyen wachsender Kritik an der Heimatfront ausgesetzt sah, verteidigte die Entscheidung in seiner ersten Ansprache an die USA-Bevölkerung seit Beginn der Luftangriffe mit den Worten: »Wenn unsere Interessen und Werte auf dem Spiel stehen, haben wir eine Verantwortung zu handeln«. Und eröffnete damit ein weites Feld für Militäroperationen dieser Art. Zugleich bekräftigte er, dass die USA für den »begrenzten« Einsatz keine Bodentruppen entsenden würden. Allerdings sprach die »Washington Post« gestern von einer »dramatischen « Zunahme der Angriffe auf Gaddafis Truppen. Erstmals seien dabei tieffliegende Kampfflugzeuge eingesetzt worden.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle setzte auch in London »auf einen politischen Prozess, auf eine politische Lösung« und hat der libyschen Opposition Hilfe bei einer politischen Neuordnung des Landes und beim Wiederaufbau angeboten. Erst einmal aber müssten die Sanktionen weiter verschärft werden, von Reisebeschränkungen über das Einfrieren von Konten bis zum Waffenembargo; vor allem sollten die erweiterten Strafen ein umfassendes Ölund Gasembargo beinhalten.

Mit der Einnahme der Ölstadt Ras Lanuf, wo an der Küste wichtige Pipelines aus dem Inland zusammenlaufen, stellt sich verstärkt die Frage, was mit den Ölvorkommen Libyens wird. Die Aufständischen wollen erreichen, dass die Ausfuhren aus dem »befreiten Osten « von Sanktionen ausgenommen werden. Wie Gaddafi brauchen sie dringend Geld. Aber wer eigentlich würde da mit wem Geschäfte machen? Laut »Al Dschasira « existiere bereits ein Vertrag mit dem staatlichen Ölkonzern Katars, das auch Kampfflugzeuge für die Koalition gestellt hat. Die libysche Opposition sicherte am Dienstag für eine Zeit nach Gaddafi umfangreiche demokratische Reformen zu – und mit Blick auf die vielen Ölmultis im Lande auch den Schutz der Interessen und Rechte ausländischer Bürger und Unternehmen in Libyen.

** Aus: Neues Deutschland, 30. März 2011


Luftkrieger

Charles Bouchard - Der kanadische General leitet den NATO-Krieg in Libyen ***

Charles Bouchard kennt sich in der Mittelmeerregion bestens aus. Seit 2009 ist der kanadische Drei-Sterne- General stellvertretender Kommandeur des NATO-Hauptkommandos im süditalienischen Neapel, das für den mediterranen Raum zuständig ist. Von dort aus wird Bouchard nun das am Sonntag beschlossene NATO-Kommando über den Krieg gegen Gaddafis Truppen in Libyen übernehmen. Der gesamte Einsatz wird am Donnerstagmorgen an das Militärbündnis übertragen.

Mit dem nahe der Stadt Saguenay in der Provinz Québec geborenen Bouchard hat die NATO einen erfahrenen Mann für die »sehr komplexe Operation« ausgewählt. Während der langjährige Krieg, den die USA im fernen Vietnam führten, die Weltöffentlichkeit erschütterte, hatte sich Bouchard in jungen Jahren das Ziel gesetzt, Militärpilot zu werden. Schon als 13-Jähriger schloss er sich 1970 den Luftkadetten an, einer Jugendorganisation unter der Schirmherrschaft des Verteidigungsministeriums. Vier Jahre später trat er in die Armee seines Heimatlandes ein, wo Bouchard zum Piloten von Kampfhubschraubern ausgebildet wurde. Nebenbei machte er an der University of Manitoba einen Bachelor in Politikwissenschaft. Der mehrfach ausgezeichnete Soldat wurde zu einem der Chefs der kanadischen Luftwaffe. Von August 2007 bis Juli 2009 diente er als Vizekommandeur im Nordamerikanischen Luft- und Weltraum-Verteidigungskommando (NORAD), einer Einrichtung des kanadischen und US-amerikanischen Militärs, die einst zur Überwachung des Weltraums und zur Verteidigung vor möglichen sowjetischen Angriffen mit Interkontinentalraketen gegründet wurde. Seit dem Ende des Kalten Krieges sieht NORAD seine Daseinsberechtigung vor allem in der »Terrorabwehr«.

Bouchards Kontakte zu hochrangigen US-Offizieren waren sicherlich ein entscheidender Grund für seine Berufung zum Kommandeur des Libyen-Einsatzes »Unified Protector « (Vereinigte Schutzmacht). So wird er gewiss auch mit seinem Vorgesetzten in Neapel, Admiral Samuel J. Locklear, der zurzeit die Streitkräfte der US-Navy zur Durchsetzung des Flugverbots und der Seeblockade gegen Libyen kommandiert, weiter eng zusammenarbeiten.

Aert van Riel

*** Aus: Neues Deutschland, 30. März 2011


Aufteilung der Beute

Nordafrika-Konferenz in London: NATO-Staaten und Gäste beraten über "Libyen ohne Ghaddafi". Aufständische garantieren, Interessen internationaler Konzerne zu schützen

Von Rüdiger Göbel ****


Noch tobt der Krieg in Libyen, da haben sich Vertreter der ­NATO-geführten Interventionsallianz und ausgewählte Gäste in London zu einer Konferenz über die Zukunft des Landes, sprich: den Zugriff auf die Ölressourcen, nach einem Sturz Muammar Al-Ghaddafis getroffen. Offiziell sollte ein Plan zur raschen Beendigung des Konflikts diskutiert werden, darunter Vorschläge für eine Waffenruhe und ein mögliches Exil für Ghaddafi. An dem Gipfel nahmen die Außenminister aus rund 35 Staaten sowie Vertreter der UNO, der Arabischen Liga, der Afrikanischen Union und der NATO teil. Vertreter der sogenannten libyischen Übergangsregierung saßen am Katzentisch, die libysche Regierung war nicht eingeladen.

Der britische Außenminister William Hague, US-Außenministerin Hillary Clinton und Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) trafen am Rande der Konferenz nacheinander den libyschen Oppositionsvertreter Mahmud Dschibril. Washington will möglichst bald einen US-Vertreter in die ostlibysche Stadt Bengasi schicken, um einen »systematischen« Kontakt mit den Aufständischen herzustellen. Die als libyscher Nationalrat firmierenden Ghaddafi-Gegner sicherten dem Westen derweil »Reformen« zu. Die Interessen und Rechte von ausländischen Bürgern und Unternehmen sollen geschützt werden, heißt es mit Blick auf das Engagement multinationaler Ölkonzerne in dem nordafrikanischen Land. Per Volksentscheid soll zudem eine neue Verfassung verabschiedet werden, die die Demonstrations- und Pressefreiheit garantiere sowie die Zulassung von Parteien, Gewerkschaften und weiteren zivilgesellschaftlichen Gruppen festschreibe.

Staatschef Ghaddafi forderte die Londoner Konferenzteilnehmer auf, die Angriffe gegen sein Land zu stoppen. »Beenden Sie die barbarische und ungerechte Offensive gegen Libyen«, erklärte der Revolutionsführer in einer von der amtlichen Nachrichtenagentur Jana am Dienstag verbreiteten Erklärung. Die Kriegsallianz sei dabei, eine »Vernichtungsoperation« gegen das libysche Volk zu führen, vergleichbar »mit Hitlers Feldzügen« in Europa und den Bombardements gegen Großbritannien im Zweiten Weltkrieg. Libyens Vizeaußenminister Chaled Kaim warf der NATO vor, sein Land spalten zu wollen. Dies wäre der »Beginn eines neuen Somalia«, sagte er dem italienischen Fernsehen. Der Chef des »Nationalrats«, Mustafa Abdel Dschalil, beschuldigte wiederum die Truppen von Ghaddafi, auf eine Teilung des Landes hinzuarbeiten. Abdel Dschalil sicherte für den Fall einer Machtübernahme zu, die »illegale Einwanderung« nach Europa zu bekämpfen – in diesem Fall wäre die Kontinuität zu Ghaddafi gewahrt.

Allerdings stockte am Dienstag (29. März) der Vormarsch der Aufständischen gen Tripolis. Die Opposition sei »nicht gut organisiert«, konstatierte US-Vizeadmiral Bill Gortney. Seiner Bilanz zufolge sind bis Dienstag 1602 Lufteinsätze geflogen worden, davon 735 Angriffe. Die seien keine »direkte Unterstützung« der Opposition, die Rebellen profitierten aber von den Bombardements.

Rußlands Botschafter bei der NATO, Dmitri Rogozin, forderte gestern ein Ende der Luftangriffe auf Libyen. Wenn das Militärbündnis am Donnerstag das Kommando über den Einsatz übernehme, solle es sich auf die Sicherung des Waffenembargos und der Flugverbotszone konzentrieren. »Über diese beiden Dinge sollte die NATO nicht hinausgehen«, sagte Rogozin nach einer Sitzung des ­NATO-Rußland-Rats in Brüssel vor Journalisten. Er forderte eine enge Abstimmung mit Rußland über das weitere Vorgehen. Der Libyen-Einsatz sei ein »Lackmustest für die Aufrichtigkeit der NATO« in ihrem Bekenntnis zu einer strategischen Partnerschaft mit Rußland.

**** Aus: junge Welt, 30. März 2011


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