Aufständische auf dem Rückzug
Warten auf "Sarkozys Flugzeuge"
Nach tagelangem Vormarsch haben die Aufständischen in Libyen angesichts des Widerstands der Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi gewonnenes Terrain wieder aufgeben müssen. Sie zogen sich am Dienstag auf Positionen rund 100 Kilometer von der Stadt Sirte entfernt zurück, wie ein AFP-Korrespondent berichtete. Am Montag waren sie bis auf 60 Kilometer an Gaddafis Geburtsstadt herangekommen. Mehrere Aufständische sagten, sie wollten nun auf »den Beschuss aus Flugzeugen von Sarkozy« warten. Dann solle der Vormarsch fortgesetzt werden.
Auch BBC-Reporter berichteten, dass die Aufständischen nicht über die Stadt Bin Dschawwad hinausgekommen seien. Die zeitweise heftigen Gefechte mit Gaddafi-treuen Truppen veränderten die Frontlinien kaum. Die Pro-Gaddafi-Verbände hatten am Vortag einen Vorstoß der Rebellen auf Sirte aufgehalten. Die militärisch unterlegenen und unzureichend organisierten Aufständischen hatten schon am Sonntag unter der Deckung alliierter Luftangriffe Bin Dschawwad eingenommen. Der Ort an der Mittelmeerküste liegt 400 Kilometer westlich von Bengasi, der wichtigsten Metropole der Regimegegner.
Die libyschen Behörden behaupteten, dass durch die Luftangriffe der Alliierten »Dutzende« Zivilisten und Militärangehörige getötet worden seien. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wiederum hat den Gaddafi-Truppen die gezielte Verschleppung politischer Aktivisten und mutmaßlicher Aufständischer vorgeworfen. Mit der Kampagne hätten die zunehmenden Proteste gestoppt werden sollen. Amnesty führte am Dienstag mehr als 30 Fälle von Gefangenen, Vermissten und Verschleppten auf.
Derweil treibt Frankreich die diplomatische Anerkennung der libyschen Opposition voran. Der Diplomat Antoine Sivan sei auf dem Weg in die Rebellenhochburg Bengasi, um dort seinen Botschafterposten anzutreten, sagte ein französischer Regierungsvertreter am Dienstag. Als erstes Land hatte Frankreich vor fast drei Wochen den oppositionellen Nationalen Übergangsrat als rechtmäßige Vertretung Libyens anerkannt.
Nach dem Ansturm von mehr als 18 000 Flüchtlingen aus Tunesien kommen jetzt die ersten Boote mit Immigranten aus Libyen auf Malta und in Italien an. In zwei Booten erreichten 530 Menschen die Mittelmeerinsel. Weitere 250 sollten in einem beschädigten Boot noch am Dienstag in den Hafen von Valletta geleitet werden. Vor allem Menschen aus Eritrea und Somalia seien an Bord. Sie hatten in Libyen gearbeitet und sind vor den blutigen Kämpfen in dem nordafrikanischen Land geflohen. Vor Pozzallo auf Sizilien lief ein libyscher Fischkutter mit mehr als 450 Menschen aus Tripolis an Bord auf Grund.
* Aus: Neues Deutschland, 30. März 2011
Libyen-Konferenz ohne Libyer
Londoner Treffen drängt auf Gaddafis Abgang
Von Olaf Standke **
Während die NATO morgen früh das
Kommando über alle internationalen
Militäroperationen in und um Libyen
und damit auch über die Luftangriffe
auf die Truppen von Muammar al-
Gaddafi übernimmt, berieten die Außenminister
aus über 40 Staaten mit
Vertretern des Nordatlantik-Paktes,
der UNO und der Afrikanischen Union
am Dienstagnachmittag in London
über den Krieg und die Zukunft des
nordafrikanischen Landes.
Sie nennt sich politische Kontaktgruppe
für Libyen. Und man drängte
auf arabische und afrikanische
Teilnehmer bei ihrem gestrigen
Treffen, um den Eindruck eines
rein westlichen Militäreinsatzes zu
verwischen. Vertreter des Widerstands
gegen Gaddafi jedoch fehlten
am Londoner Konferenztisch,
wo über die Zukunft Libyens beraten
werden sollte. Mahmud Dschibril,
Sondergesandter des Nationalen
Übergangsrates, durfte nicht an
den offiziellen Verhandlungen teilnehmen
und musste sich mit Gesprächen
am Rande des Treffens
begnügen.
Zu fragen ist auch, was die
Kommandoübernahme durch die
NATO nun bedeutet. Bislang agierten
die Kampfjets der »Koalition
der Willigen« als Luftstreitkräfte
der Aufständischen. Ihre Angriffe
sollten nach Einschätzung von
Alain Délétroz von der International
Crisis Group in Brüssel zugleich
helfen, Gaddafi zu stürzen, auch
wenn das niemand offiziell ausspreche.
Der libysche Vize-Außenminister
Chaled Kaim warf der
NATO vor, Libyen spalten zu wollen.
Dies wäre der »Beginn eines
neuen Somalia«, sagte er dem italienischen
Fernsehen. NATO-Generalsekretär
Anders Fogh Rasmussen
betonte immer wieder, dass
sich die Allianz allein an den Auftrag
gebunden fühle, »Zivilisten
und von Zivilisten bewohnte Gebiete
vor Angriffen des Gaddafi-Regimes
zu schützen«. Nach Informationen
des »Guardian« erwäge
man in Paris schon, »unilaterale
Operationen außerhalb des NATOKommandos
weiterzuführen«, falls
das Pakt-Vorgehen künftig »zu
schüchtern« sei. Russlands NATOBotschafter
Dmitri Rogosin hat die
Allianz gestern nachdrücklich vor
einer »kreativen Auslegung« der
Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates
gewarnt.
Was also wird aus dem »Revolutionsführer
«? Erst hatte die saudiarabische
Zeitung »As-Sharq al-
Awsat« verbreitet, Gaddafi-Sohn
Saif al-Islam habe angeblich bei
verschiedenen westlichen Regierungen
für eine Regelung geworben,
die nach einem Waffenstillstand
und Verhandlungen mit der
Opposition eine Übergangsphase
von zwei bis drei Jahren vorsieht,
in der Saif die Regierungsgeschäfte
seines Vaters übernimmt. Nun berichteten
britische Zeitungen, London
und Washington würden auch
einen schnellen Gang Gaddafis ins
Exil akzeptieren, selbst wenn er
dann nicht vom Internationalen
Strafgerichtshof belangt werden
könnte. Einen ähnlichen Vorschlag
legte zuvor Rom vor. Gaddafi betonte
gestern, er sei bereit, Entscheidungen
der Afrikanischen
Union zu akzeptieren.
In London hat Außenministerin
Hillary Clinton vollmundig die Entschlossenheit
der »internationalen
Gemeinschaft« bekräftigt, Gaddafi
zum Rückzug zu zwingen: »Er
muss gehen!« Nur zitierte die »Washington
Post« auch US-Regierungsbeamte,
die einen Sieg der
Rebellen für unwahrscheinlich halten.
Wie US-Vizeadmiral William
Gortney betonte, sei »die Opposition
nicht gut organisiert, sie ist keine
sehr robuste Organisation«.
Präsident Barack Obama, der
sich wegen des Kriegseinsatzes in
Libyen wachsender Kritik an der
Heimatfront ausgesetzt sah, verteidigte
die Entscheidung in seiner
ersten Ansprache an die USA-Bevölkerung
seit Beginn der Luftangriffe
mit den Worten: »Wenn unsere
Interessen und Werte auf dem
Spiel stehen, haben wir eine Verantwortung
zu handeln«. Und eröffnete
damit ein weites Feld für
Militäroperationen dieser Art. Zugleich
bekräftigte er, dass die USA
für den »begrenzten« Einsatz keine
Bodentruppen entsenden würden.
Allerdings sprach die »Washington
Post« gestern von einer »dramatischen
« Zunahme der Angriffe auf
Gaddafis Truppen. Erstmals seien
dabei tieffliegende Kampfflugzeuge
eingesetzt worden.
Bundesaußenminister Guido
Westerwelle setzte auch in London
»auf einen politischen Prozess, auf
eine politische Lösung« und hat
der libyschen Opposition Hilfe bei
einer politischen Neuordnung des
Landes und beim Wiederaufbau
angeboten. Erst einmal aber müssten
die Sanktionen weiter verschärft
werden, von Reisebeschränkungen
über das Einfrieren
von Konten bis zum Waffenembargo;
vor allem sollten die erweiterten
Strafen ein umfassendes Ölund
Gasembargo beinhalten.
Mit der Einnahme der Ölstadt
Ras Lanuf, wo an der Küste wichtige
Pipelines aus dem Inland zusammenlaufen,
stellt sich verstärkt
die Frage, was mit den Ölvorkommen
Libyens wird. Die Aufständischen
wollen erreichen, dass die
Ausfuhren aus dem »befreiten Osten
« von Sanktionen ausgenommen
werden. Wie Gaddafi brauchen
sie dringend Geld. Aber wer
eigentlich würde da mit wem Geschäfte
machen? Laut »Al Dschasira
« existiere bereits ein Vertrag
mit dem staatlichen Ölkonzern Katars,
das auch Kampfflugzeuge für
die Koalition gestellt hat. Die libysche
Opposition sicherte am Dienstag
für eine Zeit nach Gaddafi umfangreiche
demokratische Reformen
zu – und mit Blick auf die vielen
Ölmultis im Lande auch den
Schutz der Interessen und Rechte
ausländischer Bürger und Unternehmen
in Libyen.
** Aus: Neues Deutschland, 30. März 2011
Luftkrieger
Charles Bouchard - Der kanadische General leitet den NATO-Krieg in Libyen ***
Charles Bouchard kennt sich in der
Mittelmeerregion bestens aus. Seit
2009 ist der kanadische Drei-Sterne-
General stellvertretender
Kommandeur des NATO-Hauptkommandos
im süditalienischen
Neapel, das für den mediterranen
Raum zuständig ist. Von dort aus
wird Bouchard nun das am Sonntag
beschlossene NATO-Kommando
über den Krieg gegen Gaddafis
Truppen in Libyen übernehmen.
Der gesamte Einsatz wird am Donnerstagmorgen
an das Militärbündnis
übertragen.
Mit dem nahe der Stadt Saguenay
in der Provinz Québec geborenen
Bouchard hat die NATO einen
erfahrenen Mann für die »sehr
komplexe Operation« ausgewählt.
Während der langjährige Krieg,
den die USA im fernen Vietnam
führten, die Weltöffentlichkeit erschütterte,
hatte sich Bouchard in
jungen Jahren das Ziel gesetzt, Militärpilot
zu werden. Schon als
13-Jähriger schloss er sich 1970
den Luftkadetten an, einer Jugendorganisation
unter der Schirmherrschaft
des Verteidigungsministeriums.
Vier Jahre später trat er in
die Armee seines Heimatlandes
ein, wo Bouchard zum Piloten von
Kampfhubschraubern ausgebildet
wurde. Nebenbei machte er an der
University of Manitoba einen Bachelor
in Politikwissenschaft. Der
mehrfach ausgezeichnete Soldat
wurde zu einem der Chefs der kanadischen
Luftwaffe. Von August
2007 bis Juli 2009 diente er als Vizekommandeur
im Nordamerikanischen
Luft- und Weltraum-Verteidigungskommando
(NORAD), einer Einrichtung des kanadischen
und US-amerikanischen Militärs,
die einst zur Überwachung des
Weltraums und zur Verteidigung
vor möglichen sowjetischen Angriffen
mit Interkontinentalraketen gegründet
wurde. Seit dem Ende des
Kalten Krieges sieht NORAD seine
Daseinsberechtigung vor allem in
der »Terrorabwehr«.
Bouchards Kontakte zu hochrangigen
US-Offizieren waren sicherlich
ein entscheidender Grund für
seine Berufung zum Kommandeur
des Libyen-Einsatzes »Unified Protector
« (Vereinigte Schutzmacht).
So wird er gewiss auch mit seinem
Vorgesetzten in Neapel, Admiral
Samuel J. Locklear, der zurzeit die
Streitkräfte der US-Navy zur
Durchsetzung des Flugverbots und
der Seeblockade gegen Libyen
kommandiert, weiter eng zusammenarbeiten.
Aert van Riel
*** Aus: Neues Deutschland, 30. März 2011
Aufteilung der Beute
Nordafrika-Konferenz in London: NATO-Staaten und Gäste beraten über "Libyen ohne Ghaddafi". Aufständische garantieren, Interessen internationaler Konzerne zu schützen
Von Rüdiger Göbel ****
Noch tobt der Krieg in Libyen, da haben sich Vertreter der NATO-geführten Interventionsallianz und ausgewählte Gäste in London zu einer Konferenz über die Zukunft des Landes, sprich: den Zugriff auf die Ölressourcen, nach einem Sturz Muammar Al-Ghaddafis getroffen. Offiziell sollte ein Plan zur raschen Beendigung des Konflikts diskutiert werden, darunter Vorschläge für eine Waffenruhe und ein mögliches Exil für Ghaddafi. An dem Gipfel nahmen die Außenminister aus rund 35 Staaten sowie Vertreter der UNO, der Arabischen Liga, der Afrikanischen Union und der NATO teil. Vertreter der sogenannten libyischen Übergangsregierung saßen am Katzentisch, die libysche Regierung war nicht eingeladen.
Der britische Außenminister William Hague, US-Außenministerin Hillary Clinton und Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) trafen am Rande der Konferenz nacheinander den libyschen Oppositionsvertreter Mahmud Dschibril. Washington will möglichst bald einen US-Vertreter in die ostlibysche Stadt Bengasi schicken, um einen »systematischen« Kontakt mit den Aufständischen herzustellen. Die als libyscher Nationalrat firmierenden Ghaddafi-Gegner sicherten dem Westen derweil »Reformen« zu. Die Interessen und Rechte von ausländischen Bürgern und Unternehmen sollen geschützt werden, heißt es mit Blick auf das Engagement multinationaler Ölkonzerne in dem nordafrikanischen Land. Per Volksentscheid soll zudem eine neue Verfassung verabschiedet werden, die die Demonstrations- und Pressefreiheit garantiere sowie die Zulassung von Parteien, Gewerkschaften und weiteren zivilgesellschaftlichen Gruppen festschreibe.
Staatschef Ghaddafi forderte die Londoner Konferenzteilnehmer auf, die Angriffe gegen sein Land zu stoppen. »Beenden Sie die barbarische und ungerechte Offensive gegen Libyen«, erklärte der Revolutionsführer in einer von der amtlichen Nachrichtenagentur Jana am Dienstag verbreiteten Erklärung. Die Kriegsallianz sei dabei, eine »Vernichtungsoperation« gegen das libysche Volk zu führen, vergleichbar »mit Hitlers Feldzügen« in Europa und den Bombardements gegen Großbritannien im Zweiten Weltkrieg. Libyens Vizeaußenminister Chaled Kaim warf der NATO vor, sein Land spalten zu wollen. Dies wäre der »Beginn eines neuen Somalia«, sagte er dem italienischen Fernsehen. Der Chef des »Nationalrats«, Mustafa Abdel Dschalil, beschuldigte wiederum die Truppen von Ghaddafi, auf eine Teilung des Landes hinzuarbeiten. Abdel Dschalil sicherte für den Fall einer Machtübernahme zu, die »illegale Einwanderung« nach Europa zu bekämpfen – in diesem Fall wäre die Kontinuität zu Ghaddafi gewahrt.
Allerdings stockte am Dienstag (29. März) der Vormarsch der Aufständischen gen Tripolis. Die Opposition sei »nicht gut organisiert«, konstatierte US-Vizeadmiral Bill Gortney. Seiner Bilanz zufolge sind bis Dienstag 1602 Lufteinsätze geflogen worden, davon 735 Angriffe. Die seien keine »direkte Unterstützung« der Opposition, die Rebellen profitierten aber von den Bombardements.
Rußlands Botschafter bei der NATO, Dmitri Rogozin, forderte gestern ein Ende der Luftangriffe auf Libyen. Wenn das Militärbündnis am Donnerstag das Kommando über den Einsatz übernehme, solle es sich auf die Sicherung des Waffenembargos und der Flugverbotszone konzentrieren. »Über diese beiden Dinge sollte die NATO nicht hinausgehen«, sagte Rogozin nach einer Sitzung des NATO-Rußland-Rats in Brüssel vor Journalisten. Er forderte eine enge Abstimmung mit Rußland über das weitere Vorgehen. Der Libyen-Einsatz sei ein »Lackmustest für die Aufrichtigkeit der NATO« in ihrem Bekenntnis zu einer strategischen Partnerschaft mit Rußland.
**** Aus: junge Welt, 30. März 2011
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