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Gaddafis Truppen stoppen Rebellen-Vormarsch

Weitere Luftangriffe der westlichen Koalition / Russland: "Unerlaubte Militärintervention" *

Trotz westlicher Luftunterstützung ist der Vormarsch der Rebellen in Libyen ins Stocken geraten.

Nach Einnahme aller strategisch wichtigen Ölhäfen im Osten stießen die Aufständischen am Montag vor der zentral gelegenen Stadt Sirte auf Widerstand der Regierungstruppen. Sirte ist die Heimatstadt von Staatschef Muammar al-Gaddafi und liegt auf halbem Weg zwischen der Rebellenhochburg Bengasi und der Hauptstadt Tripolis.

Die Anti-Gaddafi-Milizen stünden noch etwa 120 Kilometer östlich von Sirte, verlautete am Montag aus Quellen in Tripolis. Der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira berichtete, die Rebellen hätten das Wadi al-Ahmar (Rotes Tal) westlich von Nofilia erreicht. Die Talsenke sei von Gaddafi-Truppen vermint worden. Auch würden an den dahinterliegenden Anhöhen Stellungen der Regierungsstreitkräfte vermutet.

Die westliche Militärkoalition flog am Montagmorgen Angriffe auf Stellungen Gaddafi-treuer Truppen in Sirte. Auch gegen die Hauptstadt Tripolis seien in der Nacht Luftangriffe geführt worden, hieß es. Gaddafis Artillerie beschoss indes die Stadt Al-Sintan südwestlich von Tripolis mit Raketenwerfern, so Al-Dschasira.

Rund 200 Gaddafi-Soldaten ergaben sich in der Ölförderstadt Dschalu, 400 Kilometer südlich von Bengasi im Landesinneren, den Aufständischen, nachdem sie von den entlang der Mittelmeerküste abziehenden Truppen abgeschnitten worden waren.

Die Botschafter der 28 NATO-Staaten hatten am Sonntag (27. März) die Übernahme des Kommandos für den gesamten internationalen Militäreinsatz beschlossen. Dies gelte »mit sofortiger Wirkung«, sagte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in Brüssel. »Unser Ziel ist es, Zivilisten und von Zivilisten bewohnte Gebiete zu schützen, die von einem Angriff durch das Gaddafi-Regime bedroht sind.« Die NATO-Mitglieder müssten nun entscheiden, ob und wie sie sich daran beteiligen wollten, sagte Rasmussen. Als erstes und einziges Bündnisland hat Deutschland eine militärische Beteiligung ausgeschlossen. Die Bundesregierung wies am Montag Spekulationen über einen deutsch-italienischen Friedensplan für Libyen zurück. Deutschland stehe in einem ständigen Austausch mit seinen internationalen Partnern – »also auch, aber nicht nur mit Italien«, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Italiens Außenminister Franco Frattini hatte am Wochenende eine deutsch-italienische Achse zur Beilegung des Libyen-Konflikts ins Gespräch gebracht. Am Montag steckte er aber zurück: Jede Spaltung müsse vermieden werden. Es gehe darum, eine gemeinsame Lösung zu finden für »das neue Libyen, das nach Gaddafi«. Dass Gaddafi ins Exil geht, ist nach Frattinis Worten eine Option, die von der internationalen Gemeinschaft erörtert wird.

Die »Washington Post« zitierte am Montag (28. März) ungenannte US-Regierungsbeamte, die einen Sieg der Rebellen für eher unwahrscheinlich halten. Sie meinen, dass Gaddafis Regime wegen des Drucks entweder von selbst zerbricht oder dass ein Ende seiner Herrschaft am Verhandlungstisch erzielt wird.

Russland kritisierte die Luftangriffe auf Einheiten Gaddafis als »unerlaubte Militärintervention«. Die Unterstützung der Rebellen sei ein Verstoß gegen die UN-Resolution, sagte Außenminister Sergej Lawrow in Moskau. Es herrsche »praktisch Bürgerkrieg« in dem nordafrikanischen Land. »Aber in dem UN-Beschluss ist keine Rede davon, dass eine ausländische Koalition hier Partei ergreifen soll.«

Katar erkannte als erstes arabisches Land die Übergangsregierung der Rebellen in Bengasi an.

* Aus: Neues Deutschland, 29. März 2011


Moskau glaubt der NATO nicht

Russland erwartet Bodentruppen in Libyen

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Moskau glaubt nicht, dass es die NATO, die am Sonntag (27. März) offiziell das Kommando für die Operation in Libyen übernahm, bei Luftangriffen auf militärische Ziele und einer Seeblockade bewenden lassen wird.

Am Montag (28. März) zitierte die Nachrichtenagentur RIA-Nowosti einen ranghohen Mitarbeiter russischer Geheimdienste mit Befürchtungen, wonach der Nordatlantikpakt Ende April oder Anfang Mai eine Bodenoperation in Libyen starten werde, sollte es bis dahin nicht gelingen, Staatschef Muammar al-Gaddafi zur Kapitulation zu zwingen. Aus »verschiedenen Kanälen«, so der Geheimdienstler, kämen Hinweise, wonach die NATO-Staaten, allen voran Großbritannien und die USA, bereits an einem derartigen Plan feilen würden.

Ohne Bodenoperation, glaubt auch Russlands NATO-Botschafter Dmitri Rogosin, lasse sich das »Gaddafi-Problem« nicht lösen. Ihr Einsatz indes werde die Krise innerhalb des westlichen Bündnisses weiter verschärfen. Die Zurückhaltung Deutschlands und anderer NATO-Mitglieder erklärte der Diplomat in einem Interview vor allem mit dem mäßigenden Einfluss Russlands. »Wir haben einen Dialog über einen Waffenstillstand in Libyen initiiert – und das ist eigentlich wirklich das, was die in den Konflikt verwickelten Seiten möglicherweise akzeptieren werden«, sagte er wörtlich. Das Thema Libyen werde daher auch eine Rolle auf der Tagung des NATO-Russland-Rates spielen, die Mitte April auf Botschafterebene in Berlin stattfindet.

Russland hatte im UN-Sicherheitsrat zwar für Wirtschaftssanktionen einschließlich eines Waffenembargos gegen Gaddafi votiert, sich bei der Abstimmung zum Einsatz militärischer Gewalt jedoch der Stimme enthalten und auf sein Vetorecht verzichtet. Fast zeitgleich hatte Präsident Dmitri Medwedjew erklärt, Russland sei bereit, zwischen Gaddafi und dessen Gegnern zu vermitteln.

Die bisherigen Ergebnisse der einwöchigen Luftangriffe einer Koalition aus mehreren NATO-Staaten bewerten hiesige Beobachter sehr kritisch. Gaddafis Anhänger, so NATO-Botschafter Rogosin, hätten sich vor allem in den Städten verschanzt, bei Luftangriffen seien größere Opfer unter der Zivilbevölkerung daher unvermeidlich. Das sei auch der NATO klar, weshalb dort alle versuchen würden, »sich jeder Verantwortung für den weiteren Verlauf zu entziehen«. Beide Lager würden sich gegenseitig mit Diskussionen blockieren, die in Libyen zu nichts führen, dafür aber die Differenzen innerhalb des Bündnisses weiter verschärfen würden. »Diejenigen, die die Libyen-Kampagne eröffnet haben, sehen ein, dass sie die Solidarität innerhalb der NATO aufs Spiel gesetzt haben. Nun versuchen sie, einen Rückzieher zu machen, damit die Allianz doch noch in vollem Umfang in die Ausführung aller Bestimmungen der Resolution des UN-Sicherheitsrates einbezogen wird«, sagte Rogosin.

** Aus: Neues Deutschland, 29. März 2011


Polen dieses Mal nicht ganz "willig"

Warschau verzichtet auf Kriegsteilnahme

Von Julian Bartosz, Wroclaw ***


Warschaus Haltung zur »Operation Odyssey Dawn« gegen Libyen erscheint gewissermaßen schizophren. Gott sei Dank – ist man beinahe zu sagen versucht.

Polens Premier Donald Tusk wie Staatspräsident Bronislaw Komorowski einigten sich auf die Formel, dass Polen den Einsatz westlicher Staaten im Luftraum über Libyen »zum Schutz der Zivilbevölkerung« unterstütze, von einer Teilnahme an militärischen Handlungen jedoch absehe. Diesmal ist Polen also »nicht ganz willig«.

Nach einer Reihe von Beratungen in polnischen Führungsgremien nannte General Stanislaw Koziej, Chef des Nationalen Sicherheitsrates dies eine politisch-strategische Entscheidung. Polen habe keine Interessen in Nordafrika. Darüber hinaus falle der Regierung mit der am 1. Juli beginnenden EU-Ratspräsidentschaft eine wichtige Vermittlerrolle zu: Man werde, falls noch nötig, die unter einigen Staaten der Gemeinschaft bestehenden Differenzen zu Libyen zu schlichten versuchen. Wie ambitioniert dies auch klingen mag, auf sein Prestige pocht man an der Weichsel.

Das klingt bei General Slawomir Petelicki anders. Der Gründer der Spezialeinheit »Grom«, ein mit höchsten westlichen Auszeichnungen für den Einsatz in Irak dekorierter Haudegen, warf dem Regierungschef vor, dass er die Öffentlichkeit betrüge. Statt mit seiner Friedfertigkeit zu prahlen, sollte er besser sagen, dass Polen einfach nicht in der Lage sei, militärisch mitzumachen. Was an kriegstüchtigen Einheiten zur Verfügung stehe, reiche kaum für den Einsatz in Afghanistan. Die F-16 Staffel der polnischen Luftwaffe habe immer noch keine NATO-Zertifikate. Und die Flotte halte sich gerade noch über Wasser. »Wir sind keine Großmacht«, so Petelicki.

Jacek Pawlicki fand in der »Gazeta Wyborcza« noch einen weiteren Grund für Tusks Zurückhaltung: In sieben Monaten stehen Parlamentswahlen an, und die Polen seien mit großer Mehrheit gegen die Teilnahme Polens an militärischen Abenteuern wie am Hindukusch und zuvor in Irak.

Übrigens fiel in der hiesigen bürgerlichen Presse zum ersten Mal ein ehrliches Wort über die Legitimität der »Koalition der Willigen« im Zweistromland. Als Pawlicki über den »von westlichen Staaten erzwungenen Beschluss des UNO-Sicherheitsrates« zum Luftwaffeneinsatz über Libyen schrieb, ließ er die Bemerkung fallen: »zusätzlich im Unterschied zu Irak«. Seit die linke »Trybuna« aus finanziellen Gründen vor vier Jahren eingegangen ist, verharren alle polnischen Medien in der durch die »Staatsraison« aufgebauschten Lüge, der Irakkrieg sei durch eine UNO-Resolution legitimiert gewesen. Bedauerlicherweise will auch das Demokratische Linksbündnis nicht auf diese Lüge verzichten. Auf einer Landeskonferenz am Wochenende gab es sich staatstragend und lobte Tusk für dessen »vernünftige Politik zu Libyen«.

*** Aus: Neues Deutschland, 29. März 2011


Die libyschen Wunder

Von Roland Etzel ****

Ein paar hundert Aufständische, die eben noch kurz vor der Vernichtung zu stehen schienen, vertreiben die Armee Gaddafis aus einer Stadt nach der anderen. Wie ihnen das gelungen ist, sagen sie treuherzig in jedes Mikrofon: »Allah und die NATO-Flugzeuge haben uns den Sieg gebracht.« Ob Allah diese Waffenbrüderschaft recht ist, blieb bislang unbeantwortet. Aber auch die NATO will sich nicht dazu bekennen. Es gebe keine Abstimmung mit den Aufständischen, heißt es aus Washington.

Was ist nun eigentlich schwerer erklärbar? Dass die – jedenfalls nach den Fernsehberichten hierzulande – nur notdürftig ausgebildeten und nur mit veralteten Schießprügeln bewaffneten Rebellen plötzlich die angeblich modern ausgerüstete Söldnerarmee Gaddafis vor sich hertreiben? Oder dass die US-Administration die Parteinahme für die Aufständischen in Bengasi praktisch als ungewolltes Zufallsprodukt darstellt? US-Verteidigungsminister Gates lässt die Europäer mit derlei Ungereimtheiten allein. Und sorgt für neue.

Aufgescheucht von den Demoskopen, dass die Mehrheit der Menschen im Land von Friedensnobelpreisträger Obama nach Afghanistan und Irak nicht schon wieder Lust auf (Boden)-Krieg hat, räumt das Pentagon jetzt sogar ein, dass der Libyen-Krieg nicht von »zentralem nationalen Interesse« sei. Die zur Begründung der UN-Resolution behauptete Notwendigkeit des Schutzes von Zivilisten scheint Gates für den Durchschnitts-Yankee offenbar nicht mehrheitsfähig. Er begründet den US-Einsatz damit, dass es sonst eine Massenflucht aus Libyen nach Tunesien und Ägypten geben könnte, was die Entwicklungen dort gefährde. Vor Gaddafi flüchtende Revolutionäre als Gefahr für die Revolutionen in Kairo und Tunis – darauf muss man erstmal kommen.

**** Aus: Neues Deutschland, 29. März 2011 (Kommentar)


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