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Sturz von Gaddafi – Weichenstellung für eine demokratische Entwicklung oder Beginn eines neuen Bürgerkrieges?

Ein Beitrag von Andreas Flocken in der NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategien" *

Andreas Flocken (Moderator der Sendung):

Zunächst jedoch zum Sturz von Muammar al-Gaddafi. Nach mehr als 40 Jahren ist jetzt die Herrschaft des einstigen Revolutionsführers zusammengebrochen – vor allem aufgrund der NATO-Luftangriffe. Dabei war der Regime-Wechsel offiziell gar nicht das Ziel der Militäroperation – zumindest wurde das vom NATO-Hauptquartier in Brüssel immer wieder bekräftigt. Denn ein Umsturz ist durch die im März verabschiedete UN-Resolution 1973 nicht gedeckt. Die Resolution ermächtigt das Militärbündnis allein dazu, die Bevölkerung vor Angriffen der libyschen Streitkräfte zu schützen. In den westlichen Hauptstädten machte man allerdings keinen Hehl daraus, dass man die Absicht habe, Gaddafi zu stürzen – jedoch mit politischen Mitteln, so die Verlautbarungen.

Ohne die Luftangriffe wären die libyschen Rebellen heute allerdings nicht in der Hauptstadt Tripolis. Die NATO war praktisch die Luftwaffe der Aufständischen. Mit der UN-Entschließung nahmen es Paris und andere Hauptstädte nicht so genau. Waffen wurden an die Rebellen geliefert, obwohl der UN-Sicherheitsrat gegen Libyen ein Waffenembargo verhängt hatte. Außerdem wurden die Aufständischen von französischen und britischen Spezialkräften am Boden unterstützt – Soldaten, die allerdings nicht unter NATO-Kommando standen. Dagegen unterstützt das Militärbündnis die Rebellen offensichtlich bei der Suche nach Gaddafi. Das hat jedenfalls jetzt der britische Verteidigungsminister Fox in einem BBC-Interview eingeräumt:

O-Ton Fox (overvoice)
„Die NATO wird natürlich weiter Geheimdienst und Aufklärungsgeräte zur Verfügung stellen für die Suche nach Gaddafi und den Rest des Regimes.“

Sprecher der NATO bestreiten jedoch eine Unterstützung der Aufständischen. Sie wäre nämlich ein Verstoß gegen das UN-Mandat.

Deutlich wird: In Libyen hat für die westliche Staatengemeinschaft die Realpolitik Vorrang vor dem Völkerrecht.

Libyen ist reich an Öl- und Gasreserven. Franzosen, Briten und auch Italiener haben bei der Militäroperation die Hauptlast der mehr als 20.000 Einsätze getragen. Nicht zuletzt deshalb machen sich diese Länder nun große Hoffnungen auf lukrative Verträge. Wohl zu Recht.

Doch vieles bleibt noch ungewiss. Denn mit dem Sturz von Gaddafi ist der Konflikt noch lange nicht beendet. Jochen Hippler, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen:

O-Ton Hippler
„Wir haben auch im Irak beim Sturz Saddam Husseins oder in Afghanistan nach dem Sturz der Taliban gelernt, dass die Beseitigung oder der Sturz eines Regimes militärisch noch relativ leicht gelingen kann - auch wenn es in Libyen ein bisschen länger gedauert hat - aber dass dann die wirklichen Schwierigkeiten erst beginnen. Und in Libyen ist es besonders schwierig, weil wir nicht einfach eine neue politische Elite an die Stelle der alten setzen können. Weil es in Libyen einen sehr unterentwickelten Staat gegeben hat, der jetzt gerade dabei ist, sich aufzulösen. Die wirklichen Entscheidungen sind am Staat vorbei von einer Clique von alten Kumpeln aus den 60er Jahren getroffen worden. Da ist wirklich ein Vakuum entstanden, und letztlich wird es nicht darum gehen, die Eliten auszutauschen, sondern erst mal in Libyen einen Staat aufzubauen, den es nicht wirklich gegeben hat, sondern den es nur sehr schwach und sehr rudimentär gegeben hat.“

Das Land könnte schnell im Chaos versinken. Der Nationale Übergangsrat ist ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Die NATO, deren eigentliche Aufgabe der Schutz der Bevölkerung ist, will sich erst einmal zurückhalten, aber wachsam bleiben. NATO-Sprecherin Oana Lungescu formulierte in dieser Woche drei Prinzipien, die das weitere Verhalten des Militärbündnisses bestimmen sollen:

O-Ton Lungescu (overvoice)
„Die Führungsrolle bei der Unterstützung der libyschen Bevölkerung in der Nach-Gaddafi-Ära liegt bei den Vereinten Nationen und der Kontaktgrupe. Die NATO übernimmt nur eine helfende Rolle. Zweitens wird es keine NATO-Bodentruppen geben. Und drittens: Das Bündnis wird – neben der laufenden Operation Unified Protector – nur dann eine Rolle in Libyen spielen, wenn es eine entsprechende Anforderung gibt.“

Die NATO will verhindern, dass ihr Engagement als Einmischung verstanden wird. Auch deshalb steht die Entsendung von Bodentruppen nicht zur Diskussion. Ob die Region sich allerdings nach dem Gaddafi-Ende friedlich entwickeln wird, ist keineswegs sicher. Jochen Hippler:

O-Ton Hippler
„Wir haben Konflikte zwischen Ost und West, Tendenzen im Osten, sich abzuspalten. Da sind aber 80 Prozent des Öls des Landes, was die anderen Landesteile als große Bedrohung empfinden. Also da gibt es sehr viele Konfliktlinien, die sich sehr stark vermischen.“

Der Sturz von Gaddafi hat ohne Zweifel die Protestbewegungen in den anderen arabischen Ländern wie Syrien ermutigt. Allerdings werden die Oppositionellen dort weiterhin auf sich allein gestellt sein. Denn die NATO-Operation in Libyen ist keine Blaupause für ein Militärengagement in anderen Ländern, die ebenfalls von Despoten regiert werden. Es geht eben nicht allein um den Schutz der Bevölkerung.

* Aus: NDR-Sendung "Streitkräfte und Strategien", 27. August 2011; www.ndr.de/info


"Der Motor des Libyen-Krieges war Sarkozy"

Der Nationale Übergangsrat besteht im wesentlichen aus ehemaligen Anhängern Ghaddafis. Ein Gespräch mit Lucio Caracciolo **


Lucio Caracciolo (57) ist Direktor der italienischen Zeitschrift für Geopolitik Limes und lehrt an der privaten LUISS-Universität in Rom.

In Libyen stehen die Rebellen kurz vor dem Sieg. Es ist nun viel von einem »Neubeginn« und der »Stunde Null« die Rede. Wie neu ist dieses Libyen?

Darin steckt viel von dem, was Muammar Al-Ghaddafi abzuschaffen versuchte und ersetzen wollte: die Stammeslogik. Der bisherige Staatschef ist lange vor diesem Krieg mit seiner revolutionären Utopie gescheitert. Libyen war bereits entlang von Clan- und Provinzgrenzen sowie in mehrere große Regionen gespalten. Im wesentlichen war es weder ein Staat noch eine Nation.

Läßt sich im Nationalen Übergangsrat der Aufständischen eine Führerfigur erkennen, die den Herausforderungen einer absehbar schwierigen Übergangsphase gewachsen ist?

Wir wissen noch immer nicht, wie dieser Rat zusammengesetzt ist. Soweit bekannt, handelt es sich zum Großteil um ehemalige Schergen von Ghaddafi, um Opportunisten der letzten Minute. Sie werden flankiert von einer vage islamistischen Komponente und ein paar ehrlichen Verteidigern der Menschenrechte, die als Feigenblatt dienen. Die Tatsache, daß es keine Regierung ist, die eine neue Ordnung durchsetzen könnte, wurde durch die Äußerung ihres angeblichen Führers Mustafa Abdul Dschalil bestätigt, demzufolge in Libyen Polizeieinheiten aus arabischen oder anderen muslimischen Ländern stationiert werden sollten. Das zeigt, wie abhängig diese Kraft vom Ausland ist. Eine Kraft, die ihre militärischen Erfolge in erster Linie der NATO verdankt.

Nach fast 8 000 Bombenangriffen der NATO wird der Wiederaufbau zu einem Thema. Nicht wenige im Westen wittern ein großes Geschäft. Wie sehen Sie das?

Ich habe nicht den Eindruck, daß man schon von Wiederaufbau sprechen kann. Erst muß der Bürgerkrieg zu Ende sein, die Waffen beschlagnahmt und ein Sicherheitssystem geschaffen werden. Erst dann kann man über Wiederaufbau reden. Ich fürchte allerdings, daß kein Geld für eine Art »Marshallplan« zur Verfügung steht. Bestenfalls wird es – was den Westen, China und Rußland anbelangt – einen Wettstreit um die Öl- und Gasförderkonzessionen geben.

Sind die Geschehnisse in Libyen, nach allem, was man bislang darüber weiß, eines der Kapitel des vielbeschworenen »arabischen Frühlings«?

»Arabisch« ist es sicherlich, aber ich bezweifle, ob man von einem »Frühling« sprechen kann. Wir sind mitten in einem geopolitischen Erdbeben, das weitere Überraschungen bereithält – nicht nur in Libyen. Jedenfalls kann man dieses Land aus vielen Gründen weder mit Tunesien noch mit Ägypten auf eine Stufe stellen.

Läßt sich eine Parallele zur Entwicklung in Syrien ziehen?

Auch das scheint mir unmöglich. Wir haben zu wenig Informationen über das, was in Syrien wirklich vor sich geht, während es umgekehrt über Libyen noch immer viel zuviel Propaganda und Chaos gibt, um eine glaubwürdige humanitäre Bilanz zu ziehen. Wenn die Schätzungen des Übergangsrates von 20000 Toten stimmen, handelt es sich in jedem Fall um ein Desaster.

Wie stark war der Einfluß Europas an der libyschen Front?

England und Frankreich waren entscheidend. Der Motor dieses Krieges war Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, wenn auch wohl mehr aus innen- als aus geopolitischen Gründen. Der große Abwesende war Deutschland, was meines Erachtens zeigt, daß sich Berlin immer weniger um die westliche Bindung kümmert und immer mehr um seine eigenen nationalen Interessen.

Was Italien angeht, war das im wesentlichen ein Krieg des aus der KP hervorgegangenen mitte-linken Staatspräsidenten Giorgio Napolitano. Die Regierung von Silvio Berlusconi hat sich gegen ein militärisches Engagement lange gesträubt. Der Ministerpräsident selbst hat öffentlich erklärt, daß Libyen niemals bombardiert worden wäre, wenn es nach ihm gegangen wäre. Das ist der seltene, wenn nicht einzigartige Fall eines Regierungschefs, der zu sich selbst in Opposition steht.

Welches Gewicht hatten die Menschenrechte? Manche behaupten, sie seien wieder einmal auf dem Altar der Geschäftsinteressen geopfert worden.

Von Menschenrechten ist zwar viel die Rede, es ist aber schwer herauszufinden, was zu ihrem Schutz unternommen werden kann, wenn man erst einmal in die Kriegslogik hineingeraten ist.

Interview: Raoul Rigault

** Aus: junge Welt, 2. September 2011


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