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Libyens Übergangsrat kritisch beäugt

Anhaltende Proteste gegen "gewendete" Gaddafi-Minister / Wo sind die Milliarden geblieben?

Von Martin Lejeune, Tripolis *

Der Chef des Nationalen Übergangsrats Libyens, Mustafa Abdeldschalil, hat seine Landsleute zu Einheit und Versöhnung aufgerufen. Gleichzeitig warf er Mitgliedern des Gaddafi-Clans Umsturzpläne vor. Er selbst sieht sich aber bereits seit Wochen Protesten ausgesetzt.

Tripolis, Bengasi, Misrata, Tobruk, Al-Sawija, Adschdabija, Al-Baida, Darna und Zuwara: Die Liste libyscher Städte, in denen seit Mitte Dezember Tausende täglich gegen die Übergangsregierung von Mustafa Abdeldschalil demonstrieren, ist lang. Begonnen hatten die Proteste am 12. Dezember auf dem Platz der Bäume in Bengasi, der Stadt, die Anfang Februar 2011 als erste den Aufstand gegen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi probte. Inzwischen haben Demonstranten den Algerien-Platz im Zentrum der Hauptstadt Tripolis besetzt.

Auf der großen Verkehrsinsel auf dem Algerien-Platz, um die herum Tag und Nacht Betrieb ist, stehen Zelte, in denen Jugendliche über den Weg des neuen Libyen diskutieren und Blogger, über ihre Laptops gebeugt, über die täglich stattfindenden Demonstrationen berichten. Da gegenüber dem Algerien- Platz die große Gamal-Abdel- Nasser-Moschee liegt, die Hauptmoschee von Tripolis, sind die Proteste freitags besonders groß.

Faradsch Ahmed, einer der Demonstranten, ruft: »Hey, Gaddafis Männer, es ist Zeit für euch zu gehen.« Der Hauptvorwurf der Besetzer an die Übergangsregierung lautet, dass ihr noch immer Minister angehören, die schon zur Zeit Gaddafis in leitenden Positionen waren, so zum Beispiel der Wirtschaftsminister Mahmud Fetesy oder der Minister für Arbeit, Mohammed Squtry.

Der 29-jährige Ahmed zieht die Ärmel seines Pullovers hoch. Der Blick auf seine Arme legt lange und dicke Narben frei. »Das sind die Spuren der Folter, die ich in Gaddafis Gefängnissen erleiden musste. Ich will nicht, dass im neuen Libyen die für das Unrecht in der Gaddafi-Zeit Mitverantwortlichen regieren. Ihr Hintern gehört auf die Anklagebank und auf eine Gefängnispritsche und nicht auf einen bequemen Kabinettssessel«, klagt Ahmed. Auch andere Jugendliche lehnen die neue Regierung ab.

Yussef Fanusch, ein 32-Jähriger, der in Tripolis für die »Washington Post« arbeitet, wirft den Mitgliedern der Übergangsregierung Korruption vor. Abdulrazak Buhajar, als Gouverneur der Region Tripolis Mitglied des Übergangsrates, habe ein Fischereiabkommen mit einer italienischen Firma abgeschlossen, »ohne diesen Vertrag offenzulegen oder überhaupt die Legitimation dafür zu haben«, klagt Fanusch.

Nur durch ein Leck in der Verwaltung sei die Existenz des Vertrages bekannt geworden. »Unsere Hauptforderung ist Transparenz «, betont Fanusch. »Verträge, Ein- und Ausgaben von Verwaltung und Regierung müssen für die Bevölkerung einsehbar sein«, fordert der junge Journalist. Obwohl der Amtssitz von Buhajar direkt am Algerien-Platz liegt, habe sich der Gouverneur noch nicht der Aussprache mit den Demonstranten gestellt, beschwert sich Fanusch.

Es sind aber nicht nur junge Leute, die gegen die Übergangsregierung demonstrieren. Mohammed Ajaj (53), ein Bürgerrechtsanwalt aus der Mittelschicht, marschiert an diesem Abend Schulter an Schulter mit jungen Männern. »Seit der Besetzung des Platzes komme ich jeden Nachmittag nach Büroschluss hierher, um mitzudemonstrieren «, sagt Ajaj.

»Ich bin der Jugend sehr dankbar dafür, dass sie diesen Stein ins Rollen gebracht hat. Wir werden so lange gegen die Regierung demonstrieren, bis wir wirkliche Demokratie in Libyen haben!«, gibt sich der Anwalt entschlossen.

Fouad Abu Daia, ein Berber aus den Nafusa-Bergen bei Tripolis, hält ein Transparent in die Höhe, das in der Tifinagh-Schrift, der Schrift der Berber-Sprache Tamazight, verfasst ist. Auf dem Schild steht: »Wir haben unseren Märtyrern geschworen, dass ihr Blut nicht umsonst geflossen ist.« Abu Daia sagt: »Tausende Berber, nicht nur aus den Nafusa-Bergen, haben gegen Gaddafi gekämpft und dabei ihr Leben verloren. Das haben sie aber nicht getan, damit nun andere Herrscher genauso willkürlich mit dem Reichtum Libyens umgehen wie Gaddafis Clique zuvor.« Abu Daia und andere Demonstranten fragen sich, wo all die Milliarden Dollar geblieben seien, die aufgrund aufgehobener Sanktionen in den letzten Monaten zurück in das Land geflossen seien. »Ein Teil davon hat der Übergangsrat, der sich seit der Befreiung von Tripolis in dortigen Luxushotels eingemietet hat, durch seine immens hohen Hotelrechnungen verschwendet«, klagt Abu Daia. »Doch wo ist der Rest?«

* Aus: neues deutschland, 3. Januar 2011


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