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"Mission accomplished"

Historisches Gespür: NATO soll am Antikriegstag ihren Sieg verkünden. Aufständische belagern Sirte, Zivilbevölkerung im Bombenhagel gefangen

Von André Scheer *

Der polnische Regierungschef Donald Tusk will am Antikriegstag 1. September, an dem sich der deutsche Überfall auf Polen zum 72. Mal jährt, den Krieg in Libyen beenden. Bei der am Donnerstag in Paris stattfindenden internationalen Libyen-Konferenz solle eine entsprechende Erklärung verabschiedet werden, forderte Tusk. Die Friedensbewegung hat in dem liberal-konservativen Politiker jedoch keinen neuen Verbündeten gefunden. Eher erinnert sein Vorstoß an das »Mission accomplished«, das »Auftrag ausgeführt«, mit dem George W. Bush auf einem Flugzeugträger im Persischen Golf pathetisch und voreilig den Krieg gegen den Irak für beendet erklärt hatte. Nachdem die NATO das Land monatelang mit Tausenden Bombenangriffen zerstört hat, werde man nun »Libyen helfen, das Land wieder aufzubauen«, so Tusk am Dienstag (30. Aug.) nach einem Treffen mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in Brüssel.

Bis dahin sorgt die NATO erst mal weiter für Zerstörungen. Wie das Militärbündnis am Dienstag in Neapel bekanntgab, flogen Kampfflugzeuge allein am Montag erneut 120 Einsätze über Libyen. 42 davon seien Angriffe gewesen, die sich vor allem auf die Umgebung der Stadt Sirte konzentrierten. Der Ort wird seit Tagen von den Aufständischen belagert, die Bevölkerung darf ihn Medienberichten zufolge nicht verlassen. Gegenüber dem russischen Onlinemagazin Argumenti.ru sagte ein früherer sowjetischer Offizier, der sich dem Bericht zufolge in der Stadt aufhält, alle Männer, die versuchten, die Stadt zu verlassen, würden verhaftet und erschossen. »Ihre Familien werden zurück in die Stadt unter die Bomben geschickt.« Die NATO übernehme für die Rebellen dort die Aufklärung der gegnerischen Stellungen.

Die Aggressoren berufen sich hingegen noch immer auf die im März verabschiedete UN-Sicherheitsratsresolution 1973. Ihr Sprecher Roland Lavoie kündigte am Dienstag an, trotz »der allmählichen Rückkehr der Sicherheit« wolle die Allianz den Druck aufrechterhalten werden, »bis die Gefahr für die Zivilbevölkerung gebannt« sei. Die Scherben sollen dann andere zusammenkehren. »Wenn die NATO ihren Job erledigt hat, ist es die Aufgabe anderer, die Leitung bei der Unterstützung Libyens zu übernehmen«, erklärte NATO-Sprecherin Oana Lungescu. »Wir erwarten von den Vereinten Nationen, sich der Führungsrolle anzunehmen.«

Unterdessen haben sich enge Verwandte Ghaddafis in das benachbarte Algerien abgesetzt. Die staatliche algerische Nachrichtenagentur APS meldete am Montag abend unter Berufung auf das Außenministerium in Algier, Ghaddafis Ehefrau Safia, seine Tochter Aischa und die Söhne Hannibal und Mohammed sowie deren Kinder hätten Stunden zuvor die Grenze überschritten. Dafür war es offenbar höchste Zeit, denn am Dienstag brachte Aischa eine Tochter zur Welt, berichtete AFP. Daß diese Flucht möglich war, werten Beobachter als Zeichen dafür, daß Teile des libyschen Staatsgebiets noch nicht von den Aufständischen kontrolliert werden. Diese reagierten wütend darauf, daß ihnen die Angehörigen des »Revolutionsführers« entwischt sind.

Ebenfalls aus Libyen entkommen sind mehrere Journalisten, die seit einigen Tagen vermißt wurden. Vier Mitarbeiter des Internetportals Red Voltaire sowie die unabhängige Reporterin Lizzie Phelan, die unter anderem für den Moskauer Sender Russia Today gearbeitet hatte, kamen am Montag mit einem kleinen, völlig überladenen Boot in Malta an.

* Aus: junge Welt, 31. August 2011


Ultimatum an Gaddafis letzte Bastionen

Übergangsrat: Städte sollen sich bis Sonnabend ergeben / Familienmitglieder des Ex-Staatschefs in Algerien **

Die Aufständischen in Libyen haben den verbliebenen Anhängern des langjährigen Staatschefs Muammar al-Gaddafi ein Ultimatum gestellt.

Städte unter Kontrolle von Gaddafi-Anhängern hätten bis Sonnabend Zeit, sich zu ergeben, sagte der Präsident des Nationalen Übergangsrates der Rebellen, Mustafa Abdel Dschalil, am Dienstag. Von Algerien forderte der Rat die Auslieferung geflüchteter Mitglieder der Gaddafi-Familie.

»Ab Sonnabend können wir die Angelegenheit militärisch regeln, wenn kein friedlicher Ausgang in Sicht ist«, erklärte Dschalil. Ihm zufolge laufen derzeit unter anderem Gespräche zu einer friedlichen Übergabe mit den Verantwortlichen in der Küstenstadt Sirte, wo Gaddafi geboren wurde.

Am Dienstag (30. Aug.) war die Lage an der östlichen Front vor der 360 Kilometer südöstlich von Tripolis gelegenen Stadt ruhig, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Die NATO hatte in der Nacht zu Dienstag ihre Luftangriffe auf Ziele in der Gegend rund um Sirte fortgesetzt. Die Stadt gilt als möglicher Zufluchtsort Gaddafis.

Dagegen berichtete die italienische Nachrichtenagentur ANSA unter Berufung auf »glaubwürdige libysche Diplomaten«, Gaddafi halte sich mit seinen Söhnen Saadi und Seif al-Islam hundert Kilometer südöstlich von Tripolis in Bani Walid auf. Ein weiterer Sohn Gaddafis, Chamis, soll nach Rebellenangaben bei Kämpfen südlich von Tripolis getötet worden sein. Der Tod dieses Führers einer Elitetruppe war indes bereits mehrfach vermeldet worden, hatte sich aber nicht bestätigt.

Die Rebellen kritisierten Algerien wegen der Aufnahme von Gaddafis Ehefrau Safia, seiner Tochter Aischa sowie seiner Söhne Hannibal und Mohammed. Rebellensprecher Mahmud Schammam sagte, Gaddafis Familie zu »retten« sei ein Akt, den die Rebellen nicht nachvollziehen könnten. Gaddafis Familie und Gaddafi selbst sollten in Libyen in einem fairen Prozess vor Gericht gestellt werden. »Wir wollen, dass diese Personen zurückkommen«, so Schammam.

Ein Sprecher des algerischen Außenministeriums wies die Kritik der Rebellen zurück. Die Familienmitglieder seien aus »strikt humanitären Gründen« aufgenommen worden. Die Forderung nach einer Auslieferung an die Aufständischen wollte der Sprecher nicht kommentieren. Gaddafis Tochter Aischa brachte am Dienstagmorgen, einen Tag nach ihrer Flucht, algerischen Regierungskreisen zufolge eine Tochter zur Welt.

Die NATO will ihre Operationen in Libyen vorerst fortsetzen. »Der NATO-Einsatz ist wichtig, erfolgreich und noch immer notwendig zum Schutz der Zivilbevölkerung«, sagte die Sprecherin der Militärallianz, Oana Lungescu, am Dienstag in Brüssel. Solange noch weiter eine Bedrohung bestehe, gebe es »einen Job zu erledigen«.

Polens Regierungschef Donald Tusk warb angesichts der Erfolge der Rebellen dafür, den Krieg in Libyen auf der internationalen Geberkonferenz am Donnerstag (1. Sept.) in Paris offiziell für beendet zu erklären. Damit könne der Wille der EU zur Hilfe bekräftigt werden, sagte Tusk in Brüssel.

** Aus: Neues Deutschland, 31. August 2011


Hauptstadt des Weltkalifats

Aufregung um Abdel Hakim Belhadsch

Von Knut Mellenthin ***


Große Aufregung herrscht in der »Bloggerszene« über den Militärchef der Rebellen in der libyschen Hauptstadt Tripolis: Abdel Hakim Belhadsch ist angeblich »ein Al-Qaida-Mann«, wenn nicht sogar ein »Spitzenführer von Al-Qaida«. Über den Sachverhalt sind sich ausnahmsweise manche Menschen mit linkem Selbstverständnis, dubiose Märchenerzähler vom Schlage eines Webster Tarpley und zionistisch-antimuslimische Haßwebseiten wie »Jihad Watch« einig. Die gemeinsame Behauptung: Der Westen habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um Muammar Al-Ghaddafi zu stürzen, und nun werde von Tripolis aus der Terrorkampf für das Weltkalifat organisiert.

Belhadsch war, das scheint der wahre Kern der Geschichte zu sein, Mitglied der Libyschen Islamischen Kampfgruppe, englisch abgekürzt LIFG. Welchen Rang er dort hatte – einige Blogger haben ihn rasch zum Chef der Organisation befördert –, ist bisher nicht geklärt. Selbst die genaue Geschichte der LIFG wird sehr unterschiedlich berichtet. Klar ist nur, daß sie in den 1990er Jahren bewaffnete Aktionen gegen die libysche Regierung zu unternehmen versuchte und daß daraufhin sehr schnell Hunderte Kämpfer der Organisation und andere Verdächtige die Gefängnisse füllten.

Im November 2007 gab die angebliche Nummer zwei von Al-Qaida, Ayman Al-Zawahiri, bekannt, daß die LIFG sich ihnen angeschlossen habe. Diese Behauptung entsprach aber nicht den feststellbaren Tatsachen. Zu dieser Zeit war bereits eine intensive Zusammenarbeit zwischen den libyschen Sicherheitsdiensten und inhaftierten LIFG-Kadern in Gang gekommen. Das als »Versöhnung« bezeichnete Unternehmen stand unter der Protektion von Ghaddafis Sohn Saif Al-Islam. Als Ergebnis langer Diskussionen wurde im September 2009 ein über 400 Seiten starkes Dossier veröffentlicht, in dem die LIFG ihre Vergangenheit aufarbeitete und dem bewaffneten Kampf abschwor. In der Folgezeit wurden Hunderte islamistischer Gefangener aus der Haft entlassen.

Belhadsch selbst war in den 1990ern Jahren, möglicherweise erst 1999, nach Afghanistan gereist, um der Verhaftung zu entgehen und zugleich die Taliban zu unterstützen. Nach deren Sturz und dem Einmarsch US-amerikanischer Truppen im Herbst 2001 soll er dann – darin stimmen alle Berichte überein – über den Iran geflüchtet sein. Unterschiedlich wird erzählt, wo er später verhaftet wurde. Genannt wurden bisher Thailand, Malaysia, Pakistan und Hongkong. Als Zeitraum wird sowohl 2003 als auch 2004 angegeben. Sicher scheint wiederum, daß Belhadsch an die USA ausgeliefert und von der CIA – vermutlich in Thailand – unter Anwendung der üblichen Foltermethoden »verhört« wurde. Anschließend wurde er, möglicherweise schon 2004, nach Libyen überstellt, wo er erneut eingesperrt wurde. Im Zuge der Amnestierung der LIFG-Gefangenen kam er frei, vielleicht 2008, vielleicht aber auch erst im März 2010.

Zu Al-Qaida hat Belhadsch wahrscheinlich nicht gehört, zumindest gibt es dafür keine Anhaltspunkte. Außerdem wurde er nirgendwo und niemals vor Gericht gestellt. Möglicherweise hat die CIA ihn schon »umgedreht«, als sie ihn in der Mangel hatte. Ganz sicher aber organisiert er jetzt nicht die gewaltsame Islamisierung der Welt.

*** Aus: junge Welt, 29. August 2011


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