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NATO-Massaker in Libyen

Bei Bombenangriffen auf libysches Dorf wurden nach Angaben von Einwohnern 85 Menschen getötet. Offensichtlich handelt es sich um ein Kriegsverbrechen

Von Franklin Lamb, Majer *

Majer, ein malerisches Dorf, etwa 20 Meilen östlich der antiken römischen Stadt Leptis Magna gelegen, sechs Meilen von Zliten entfernt und nicht weit von Libyens südlicher Küste, wo Rom gegenüber auf der anderen Seite des Mittelmeers liegt, ist für die feine Qualität seiner Datteln bekannt, und, so die Meinung der Einheimischen, produziert den besten Tarbuni (Dattelsaft) in Libyen. Wie Familienmitglieder, Augenzeugen und libysche Regierungsbeamte erklären, hat die NATO in Majer in der vergangenen Woche durch Luftangriffe 85 Menschen getötet, darunter 33 Kinder und 32 Frauen sowie 20 Männer.

In einer örtlichen Leichenhalle wurden Reportern und Besuchern 30 der Toten gezeigt, darunter eine Mutter und zwei Kinder. Beamte und Einwohner sagten aus, daß etwa 50 Leichen zu Familienbegräbnissen an andere Orte verbracht und die meisten Verwundeten unverzüglich in Krankenhäuser von Tripolis eingeliefert wurden.

Die NATO entschied, in Majer drei benachbarte Gebäudekomplexe zu bombardieren, und Besucher stießen dort auf insgesamt fünf ausgebombte Häuser. Bei diesen Bauernhäusern gab es keinerlei Hinweise auf Waffen, vielmehr Matratzen, Kleidung und Bücher, die im Gelände verstreut lagen. Die schwerverwundete 15jährige Salwa Ageil Al-Jaoud hatte ihren Namen in ein Notizbuch geschrieben, das unter den Trümmern gefunden wurde. Sie wurde später im Krankenhaus aufgesucht, und, wie seinerzeit auch die Zeugen in Kana (Libanon)[1], bezeugte sie, daß es keine militärische Präsenz in den bombardierten Häusern gab.

Die NATO benutzte dieselbe Taktik wie Israel bei den beiden Massakern in Kana. Nach den ersten drei Bomben, die am Montag, den 8. August, gegen 23 Uhr (Ortszeit) abgeworfen wurden, liefen viele Einwohner der Gegend zu den getroffenen Häusern, um zu versuchen, ihre Lieben zu retten. Unmittelbar danach schlug die NATO mit weiteren Bomben zu: 85 Libyer wurden einfach hingeschlachtet.

Die stark verbrannten und zerfetzten Leichen von zwei Jungen namens Adil Moayed Gafes und Aynan Gafees wurden von ihren unter Schock stehenden Familienangehörigen aus den Trümmern gezogen. Ein Mann sprach in seinem Schmerz immer wieder die Worte: »Es gibt keinen Gott außer Allah, und ein Märtyrer wird von Allah geliebt«, und bald stimmten andere ein. Der Sprecher der libyschen Regierung, Mussa Ibrahim, erklärte, auf einem Trümmerhaufen stehend: »Dies ist ein unvorstellbares Verbrechen. Alles an diesem Ort ist zivil!«

Militärisches Ziel?

Nach Aussage von libyschen Regierungsvertretern, die vor Ort am Tag danach im Hotel Rixos interviewt wurden, attackierte die NATO Majer, »um zu versuchen, den Rebellen zu helfen, die von der Regierung gehaltene Stadt von Süden her anzugreifen, denn sie intensiviert ihre Intervention bzw. ihr militärisches Kommando und ihre Kontrolle über die eine Seite in dem entfesselten Bürgerkrieg, in der Hoffnung auf Milliarden von Dollar für Wiederaufbauverträge und spezielle Ölkontrakte von seiten des von ihr ausersehenen Teams, das in Ost-Libyen aufgestellt wurde«.

In offenkundiger Anlehnung an Praktiken des Medienbüros der israelischen Armee erklärten die stellvertretende NATO-Sprecherin Carmen Romero und der Militärsprecher der Operation »Unified Protector« (»Vereinter Beschützer«), Oberst Roland Lavoie, in einer gemeinsamen Presseschaltkonferenz zwischen Brüssel und Neapel am 9. August 2011, daß »das bombardierte Dorf einen militärischen Sammelplatz darstellte, und daß die NATO zur Stunde keine Beweise für irgendwelche zivilen Opfer hat, daß vielmehr die NATO stets außergewöhnliche Maßnahmen ergreift, um die Sicherheit von Zivilisten zu garantieren«.

Es ist abzusehen, daß die NATO, wenn die Beweise für das Massaker in Majer öffentlich werden und sie unter Druck gerät, das Töten weiterer libyscher Zivilisten zu erklären, wahrscheinlich innerhalb der nächsten 48 Stunden »eine interne Untersuchung« der Ereignisse ankündigen wird und dabei, wie die Israelis es regelmäßig machen, vorab erklärt, daß ihr Bombardement nur auf »legitime militärische Ziele« gerichtet war.

Das Massaker in Majer wurde wieder einmal mit Waffen aus den USA verübt, für die wieder einmal die amerikanischen Steuerzahler aufzukommen haben, ohne ihre Kenntnis oder Zustimmung und entgegen allen amerikanischen humanitären Werten, die von allen Menschen guten Willens geteilt werden.

Eine Untersuchung der Örtlichkeiten von NATO-Bombeneinsätzen, Inspektionen der Ziele, katalogisierte Seriennummern von nicht explodierter Munition, die Überprüfung von Bomben- und Raketenfragmenten an zivilen Örtlichkeiten in Westlibyen und Konsultationen mit libyschen militärischen Quellen bestätigen, was zwei Mitarbeiter und Völkerrechtler des Streitkräfteausschusses des US-Senats festgestellt haben: Die NATO hat am 8. August 2011 in Majer in Libyen, wie ihre israelischen Verbündeten in Kana im Libanon, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit begangen.

Internationales Recht

Eine zunehmende Zahl von Völkerrechtlern und Menschenrechtsaktivisten aus Europa, Asien, Süd- und Nordamerika äußert den Verdacht, daß die NATO Verbrechen gegen das Volk von Libyen begangen hat, und zwar unter folgenden Gesichtspunkten: Das in diesem Falle maßgebliche internationale Recht ergibt sich – wenn auch nicht ausschließlich – aus dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag [gemeint ist Artikel 8, Zif. 2, Bst. b, Unterzif. v, jW). Danach ist eines der Kriterien für eine Anklage wegen Kriegsverbrechen »der Angriff auf unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, die nicht militärische Ziele sind, oder deren Beschuß, gleichviel mit welchen Mitteln«. Die ständige Einbeziehung ziviler Ziele für militärische Zwecke durch die NATO, ein Szenario, das der Militärpakt scham- und mitleidlos »Kollateralschaden« nennt, entspricht genau dieser Bestimmung und wäre ein Eckstein in einem Anklageverfahren wegen Kriegsverbrechen gegen diese Organisation. Außerdem die Verletzung des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen (Artikel 3, Ziff. 1 Abs. 2): »Zu diesem Zwecke sind und bleiben in bezug auf die oben erwähnten Personen jederzeit und jedenorts verboten: (a) Angriffe auf Leib und Leben, namentlich Mord jeglicher Art, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folterung.«

Diese Tatbestände sind denen ähnlich, die von Juristen der USA in einem Verfahren am New Yorker »Center for Constitutional Rights« (Zentrum für Verfassungsrechte) gegen israelische Amtsträger [Ali Saadallah Belhas, et al., Plaintiffs, v. Moshe Yaalon, Defendant (466 F. Supp.2d 127 2006)] vorgebracht wurden. Ein Fall, der dazu beitrug, die internationale Rechtsgemeinschaft und die Öffentlichkeit über die Notwendigkeit aufzuklären, internationale Straftäter der souveränen Immunität zu entkleiden und Rechtsverfahren sowohl vor innerstaatlichen wie internationalen Gerichten zuzulassen.

Das NATO-Massaker in Majer verlangt nach internationalen juristischen Verfahren, die mindestens dies erreichen.

[1] Durch israelischen Artilleriebeschuß eines UNIFIL-Gebäudes in dem libanesischen Dorf Kana am 18. April 1996 wurden 106 Zivilpersonen getötet und etwa 116 weitere verletzt. Ein weiteres Mal erfolgte in Kana am 30. Juli 2006 ein Angriff der israelischen Luftwaffe auf ein Gebäude, bei dem 27 Personen getötet wurden.

* Der Publizist Franklin Lamb ist zur Zeit in Libyen. Eine Langfassung des Artikels erschien am vergangenen Wochenende im US-Magazin Counterpunch (www.counterpunch.org/lamb08122011.html). Übersetzung aus dem Englischen: Klaus von Raussendorff

Aus: junge Welt, 18. August 2011



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