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Super Bilanz

NATO feiert den Libyen-Krieg als "erfolgreichste Mission". Was zählen 60000 Tote – Hauptsache, Ghaddafi ist weg

Von Joachim Guilliard *

Nach der Ermordung des libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi hat die NATO erklärt, der militärische Job sei getan. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verkündete in der vergangenen Woche in Berlin und am Montag in Tripolis: »Das war wohl eine der erfolgreichsten Missionen in der Geschichte der NATO«. Die meisten Medien hierzulande sind gleichfalls hochzufrieden und verweisen vorsichtshalber noch einmal darauf, daß der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1973 den Militäreinsatz in Libyen erlaubte. Die positive Bilanz, die sich die NATO selbst ausstellt, wird nicht hinterfragt. Dabei fällt die Schlußrechnung, wenn man sie an den offiziellen Zielen mißt, vernichtend aus.

Erinnern wir uns: Die besagte UN-Resolution, die den Willigen die Tür zum Krieg einen Spalt weit öffnete, forderte einen Waffenstillstand, Verhandlungen über eine politische Lösung und den Schutz der Zivilbevölkerung. Geschehen ist jedoch genau das Gegenteil. Die NATO torpedierte alle Vermittlungsbemühungen, die Zahl der bisherigen Opfer des Krieges wird auf 60000 geschätzt. 60000 Libyer haben also den »Schutz« der NATO nicht überlebt.

Oder besteht der gefeierte Erfolg womöglich doch nur in der Liquidierung des unbequemen Gegenspielers Muammar Al-Ghaddafi? Dann sind natürlich Zehntausende Tote für die westliche Allianz zu vernachlässigen.

Die Ermordung des libyschen Revolutionsführers Ghaddafi ist exemplarisch für den ganzen Krieg und unterstreicht einmal mehr dessen verbrecherischen Charakter. Der Jubel westlicher Politiker und Medien über seinen Tod zeugt nicht nur von einem rapiden zivilisatorischen Verfall, sondern auch von der Unfähigkeit, aus früheren Untaten zu lernen. In Afghanistan und im Irak ging der Widerstand nach dem anfänglichen Triumph der Aggressoren erst richtig los. Die aktuellen Siegesfeiern dürften sich daher sehr schnell als genauso verfrüht erweisen wie George W. Bushs »Mission accomplished« im Mai 2003.

Zuverlässige Informationen über die Umstände von Ghaddafis Ermordung gibt es wie immer kaum. Doch wer genau ihn liquidierte, ist zweitrangig. Sicher scheint, daß französische Kampfjets und US-amerikanische Killerdrohnen seinen Konvoi zusammenbombten und damit die siebenmonatige Jagd der NATO auf das faktische Staatsoberhaupt eines einst souveränen Staates erfolgreich abschlossen. Ihre Bodentruppen, die libyschen Rebellenmilizen, mußten – wie immer – das Werk nur noch vollenden.

Die NATO sagte nach Mafiaart, sie habe nicht gewußt, wer alles im Konvoi ist und nur – als eine Art rabiate Verkehrspolizei – auf dessen hohe Geschwindigkeit reagiert. Der BND, der auch Anspruch auf einen Anteil am Erfolg anmeldet, steckte dem Spiegel jedoch, daß ihm der Unterschlupf Ghaddafis in Sirte »seit Wochen« bekannt gewesen sei. Das klingt nach Prahlerei, vermutlich hatten die deutschen Spione nur Hinweise darauf, daß er sich in einem Teil von Sirte befand. Plausibler sind die Meldungen, daß die NATO durch Erfassen von Funktelefonsignalen den ungefähren Aufenthaltsort ermitteln konnte. Als sich aus dem mutmaßlichen Stadtviertel Fahrzeuge in Bewegung setzten, wurden sie durch Kampfbomber und Drohnen gestoppt und größtenteils zerstört.

Mit ziemlicher Sicherheit waren dann auch schon Spezialeinheiten der NATO-Armeen zusammen mit Rebellenmilizen in der Nähe des Geschehens. Dem israelischen Militärinformationsdienst DebkaFile zufolge legen »Berichte militärischer Quellen« sogar nahe, daß es erstere waren, die Ghaddafi aufspürten und gefangennahmen (siehe auch Spalte). Sie hätten ihm in beide Beine geschossen und anschließend den Misurata-Milizen übergeben, überzeugt, diese würden ihn umbringen.

Es handelt sich somit bei der Ak­tion zunächst um ein weiteres Kapitel des extrem ungleichen Kampfes zwischen den Verteidigern der libyschen Souveränität und den angreifenden NATO-Mächten. Letztere verfügen über die stärksten Streitkräfte der Welt und brachten das modernste Arsenal an Waffen, Aufklärungssystemen und Mitteln der psychologischen Kriegsführung zum Einsatz. Satelliten, Kampfjets und Drohnen ermöglichen es ihnen, aus der Luft nahezu jede größere Bewegung des Gegners zu entdecken und alles, was verdächtig erscheint, ohne Gefahr für sich selbst anzugreifen und – auch rein prophylaktisch – mit ungeheurer Feuerkraft auszulöschen. Spezialeinheiten erkundeten und markierten zu zerstörende Gebäude und Infrastrukturanlagen, leiteten die Aktionen der Rebellenmilizen und steuerten das Eingreifen von Kampfjets und -hubschrauber in die Bodenkämpfe. Daß sich Sirte unter diesen Bedingungen zwei Monate halten konnte, wird vermutlich in die Heldengeschichten des afrikanischen Unabhängigkeitskampfes eingehen.

Nicht nur der DebkaFile-Bericht legt nahe, daß es wahrscheinlich Milizen aus Misurata waren, die Muammar Al-Ghaddafi und seinen Sohn liquidierten. Dafür spricht auch, daß die Leiche nicht in die Hauptstadt, sondern nach Misurata geschafft und dort zur Schau gestellt wurde. Die Milizen, die bereits durch ihr brutales Vorgehen in den Nachbarorten berüchtigt wurden, zeigen wenig Neigung, sich denen aus Bengasi, die nun die Führung des ganzen Landes beanspruchen, unterzuordnen.

Auf ihr Konto ging vermutlich auch die Exekution von 53 Ghaddafi-Anhängern im Hotel Mahari. An dessen Eingang und an Wände im Innern gemalt, fand man die Namen von fünf bekannten »Brigaden« aus Misurata, die dort wohl ihre Basis hatten: die Tiger-Brigade (Al-Nimer), die Unterstützungsbrigade (Al-Isnad), die Jaguar-Brigade (Al-Fahad), die Löwen-Brigade (Al-Asad) und die Zitadellen-Brigade (Al-Qasba). Man sollte sich die Namen merken. Es steht zu befürchten, daß man auch in Zukunft noch von ihnen hören wird.

* Aus: junge Welt, 3. November 2011


Den Haag ermittelt gegen NATO

Internationaler Strafgerichtshof untersucht Kriegsverbrechen in Libyen **

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat Ermittlungen gegen die NATO und den »Nationalen Übergangsrat« (NTC) wegen Kriegsverbrechen in Libyen aufgenommen. Das geht aus einem 22 Punkte umfassenden Bericht hervor, den IStGH-Ankläger Luis Moreno-Ocampo am Mittwoch (Ortszeit) dem UN-Sicherheitsrat in New York erstattet hat. Den Aufständischen gegen die Regierung des langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi legt Moreno-Ocampo demnach die willkürliche Verhaftung von Zivilisten sowie die Ermordung gefangengenommener Kämpfer zur Last.

Zugleich gehen die Ermittlungen gegen Repräsentanten der gestürzten libyschen Regierung weiter. Moreno-Ocampo bestätigte, daß sich Personen »mit Verbindungen zu« Ghaddafis Sohn Saif Al-Islam beim Gerichtshof erkundigt hätten, ob sich der von Den Haag mit Haftbefehl gesuchte 39jährige sicher sein könne, nicht an die neuen Machthaber in Libyen ausgeliefert zu werden, wenn er sich den Richtern stelle. Es sei »ein positives Zeichen«, daß der Gerichtshof »als Garant für die Rechte Verdächtiger« angesehen werde, kommentierte dies Moreno-Ocampo. Man habe den Kontaktpersonen mitgeteilt, daß Saif Al-Islam die Richter bitten könne, nicht seine Rückkehr nach Libyen anzuordnen, sondern ihn in ein anderes Land zu überstellen, daß seine Aufnahme akzeptiert. Ob die Richter einem solchen Ansinnen jedoch in jedem Fall stattgeben, ließ der Ankläger offen.

Der russische Fernsehsender RT berichtete am Donnerstag (3. Nov.), Moreno-Ocampo habe auch Ermittlungen zu den Umständen des Todes von Muammar Al-Ghaddafi angekündigt. Aus der auf der Homepage des IStGH veröffentlichten Fassung seines Berichts geht das nicht hervor. Demnach erklärte er lediglich, seine Behörde warte noch auf offizielle Dokumente »der libyschen Regierung«, die den Tod bestätigen.

Die Ausweitung der Ermittlungen Den Haags dürfte auch auf Druck aus Moskau zurückzuführen sein. So forderte der russische UN-Botschafter Sergej Karew, alle Schuldigen für Kriegsverbrechen in Libyen müßten entsprechend den internationalen Gesetzen bestraft werden. »Die Zahl ziviler Opfer und der Schäden an ziviler Infrastruktur in Folge der Aktionen aller kriegführenden Parteien in Libyen ist sehr hoch. Leider haben auch Aktionen der NATO-geführten Koalition zivile Tote verursacht«, kritisierte der Diplomat gegenüber RT.

** Aus: junge Welt, 4. November 2011


Joachim Guilliard referiert beim Friedenspolitischen Ratschlag 2011 in Kassel zum Thema:

Afghanistan, Irak, Libyen: Vom Scheitern des Interventionismus

18. Friedenspolitischer Ratschlag

26./27. November 2011

an der Universität Kassel
Beginn: Samstag, 26. Nov., 12 Uhr Ende: Sonntag, 27. Nov. 14 Uhr

Zum PROGRAMM (pdf)





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