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Beschwörungen aus Brüssel

Russland macht NATO für zivile Opfer in Libyen verantwortlich / Pakt beriet über Afghanistan *

Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat die NATO für zahlreiche tote Zivilisten in Libyen verantwortlich gemacht. Der Pakt beriet am Donnerstag (6. Okt.) weiter in Brüssel.

»Die UN-Resolution hat Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung gefordert, aber das Gegenteil ist eingetreten«, sagte Minister Lawrow am Donnerstag nach Angaben der Agentur Interfax in Moskau. Der Preis für die Unterstützung der Gegner von Staatschef Muammar al-Gaddafi sei die »Multiplizierung der zivilen Opfer« gewesen. »Wir akzeptieren keine Beschwörungen aus der NATO-Hauptstadt, dass die Intervention der NATO zahlreiche Leben gerettet hat«, erklärte der Minister. Die UN-Vetomacht Russland hatte im März die Resolution 1973 des Weltsicherheitsrates gegen das Gaddafi-Regime durch Enthaltung ermöglicht, die Luftangriffe der Allianz aber wiederholt kritisiert.

Der NATO zufolge sind nach einem halben Jahr die Bombardements auf Libyen »praktisch beendet«. Das sagte der italienische Verteidigungsminister Ignazio La Russa am Mittwoch in Brüssel. »Es ist aber weiterhin nötig, in Alarmbereitschaft zu bleiben«, fügte er hinzu. Zuvor hatte auch NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gesagt, die NATO-Mission neige sich dem Ende zu. Erst vor zwei Wochen war sie von den NATO-Staaten um 90 Tage verlängert worden.

Beim geplanten Truppenabzug aus Afghanistan sieht NATO-Generalsekretär Rasmussen sieht das Militärbündnis im Plan. Bislang hätten die einheimischen Kräfte in sieben Provinzen und Distrikten die Verantwortung für die Sicherheit übernommen, sagte der Däne am Donnerstag in Brüssel bei Beratungen über den seit zehn Jahren andauernden NATO-Einsatz in Afghanistan. »Die nächste Etappe der Übergabe wird bald angekündigt.« Die Pläne zur Übergabe seien » auf dem richtigen Weg und werden nicht mehr davon abkommen«, versicherte Rasmussen. »Die afghanischen Sicherheitskräfte werden jeden Tag leistungsfähiger.« Die NATO will die Sicherheitsverantwortung bis 2014 an die afghanischen Kräfte übergeben und die eigenen Truppen abziehen.

Die Bundeswehr soll in Nordafghanistan weiterhin von US-Truppen unterstützt werden. Trotz drastischer Truppenreduzierung würden die US-Amerikaner zunächst keine »Schlüsselfähigkeiten« aus dem deutschen Zuständigkeitsgebiet abziehen, sagte Verteidigungsminister Thomas de Maizière am Rande des NATO-Treffens. US-Spezialkräfte, Hubschrauber zur Bergung von Verletzten und Roboter zur Entschärfung von Sprengsätzen stünden weiterhin zur Verfügung.

Die USA hatten im Sommer angekündigt, ihre rund 100 000 Soldaten starke Afghanistan-Truppe bis Herbst 2012 um ein Drittel zu verkleinern. Noch vor Ende des Jahres sollen landesweit 10 000 Soldaten abgezogen werden. Von den im Norden stationierten mehr als 5000 US-Soldaten sollen dem Vernehmen nach 900 nach Hause zurückkehren.

Am zweiten Tag der NATO-Konferenz kamen am Donnerstag die 49 Truppensteller der internationalen Schutztruppe ISAF in Brüssel zusammen. Anschließend wollten die 17 im Norden engagierten Nationen auf Einladung de Maizières über das weitere Vorgehen beraten.

Die ersten Bundeswehrsoldaten sollen um den Jahreswechsel nach Hause zurückkehren. Wie stark das deutsche Kontingent in einem ersten Schritt verkleinert wird, soll im Dezember oder Januar vom Bundestag entschieden werden. De Maizière mahnte zu »strategischer Geduld«. »Von einem Baum runterzuklettern ist komplizierter als schnell hinaufzugehen.« In Afghanistan sind derzeit rund 5000 Bundeswehrsoldaten stationiert.

Der Minister räumte ein, dass die »internationale Gemeinschaft« den Afghanistan-Einsatz mit zu hohen Erwartungen begonnen habe. Das Ziel des Aufbaus einer Demokratie nach westlichem Vorbild sei unrealistisch gewesen. Stattdessen gehe es nun vor allem darum sicherzustellen, dass nie wieder Terror von Afghanistan in die Welt exportiert werde.

Das Raketenabwehrsystem der NATO in Europa soll 2018 voll einsatzfähig sein. Das sagte Generalsekretär Rasmussen ebenfalls in Brüssel. Teile der Raketenabwehr sollen bereits zum Pakt-Gipfel im Mai 2012 funktionsfähig sein.

Spanien will sich nach Diplomatenangaben als sechstes europäisches Land an dem Raketenschild beteiligen. Polen, Rumänien, die Niederlande und die Türkei haben bereits zugesagt, US-Komponenten des Raketenschilds zu stationieren. Russland hat massive Bedenken gegen die Pläne und fühlt sich nicht ausreichend in die Planungen eingebunden.

* Aus: neues deutschland, 7. Oktober 2011

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