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NATO zieht Lehren aus Libyen – positive

Generalsekretär: Pakt muss noch stärker werden / Bani Walid wird zunächst nicht gestürmt *

Die NATO müsse schon in Kürze nach dem Abschluss ihres Kriegseinsatzes in Libyen mehr für ihre militärischen Fähigkeiten tun. Das forderte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Montag (5. Sept.) in Brüssel.

Beim nächsten NATO-Gipfel im Mai 2012 in Chicago müssten die Verbündeten, vor allem die Europäer, konkrete Beschlüsse zu engerer militärischer Zusammenarbeit fassen, sagte Rasmussen. In Chicago soll auch die erste Stufe der Raketenabwehr für Europa als einsatzbereit erklärt werden.

Der NATO-Generalsekretär betonte, der Militärpakt werde »so lange, wie wir gebraucht werden, aber keine Minute länger« in Libyen bleiben. »Wir sind dem Erfolg schon sehr nahe, aber noch nicht ganz da.« »Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass die Zivilbevölkerung nicht mehr bedroht ist, werden wir den Einsatz beenden«, so Rasmussen. »Wir können bereits die ersten Lehren ziehen. Die meisten sind positiv. Und alle werden eine wichtige Rolle beim nächsten NATO-Gipfel im Mai spielen.« Die NATO habe Flexibilität bewiesen, sie habe innerhalb von nur sechs Tagen mit dem Libyeneinsatz begonnen. Und sie habe »Stärke gezeigt«, weil Europäer und Kanadier die Hauptlast getragen hätten. Die Europäer müssten aber größere Anstrengungen unternehmen, um jene militärischen Fähigkeiten zu bekommen, die bisher nur die USA in ausreichendem Umfang besäßen.

Derweil will der Übergangsrat in Libyen die belagerte Gaddafi-Hochburg Bani Walid zunächst nicht stürmen lassen. Für alle noch verbliebenen Enklaven von Gaddafi-Truppen gelte weiterhin die bis zum 10. September gesetzte Frist für eine Übergabe, sagte der Chef des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil dem britischen Sender BBC am Montag in Bengasi.

Die Aufständischen hatten am Montag (5. Sept.) vor Bani Walid hunderte Kämpfer zusammengezogen. Zuvor waren offizielle Verhandlungen zwischen den Rebellen sowie Stammesältesten und Anhängern Gaddafis ohne Ergebnis abgebrochen worden. Daraufhin hatten Kommandeure der Rebellen dem arabischen Fernsehsender Al-Dschasira gesagt, dass der Countdown für die Erstürmung der Stadt begonnen habe. Bani Walid liegt rund 150 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Tripolis. Der Übergangsrat hatte Mitte vergangener Woche den letzten Widerstandsorten eine Frist bis zum kommenden Sonnabend gesetzt, um sich der neuen Macht im Lande zu ergeben. Neben Bani Walid betrifft das auch die Küstenstadt Sirte, den Geburtsort Gaddafis, die südliche Wüstenstadt Sebha sowie mehrere Städte zwischen Sirte und Sebha.

Britische Medien berichteten am Montag, dass die Geheimdienste Londons und Gaddafis gemeinsam dafür gesorgt hätten, dass ein Terrorverdächtiger und dessen Familie nach Tripolis gebracht wurden. Dort habe ihnen Folter gedroht, hieß es. Es soll sich um den heutigen Rebellenführer Abdel Hakim Belhadj handeln, der nach eigenen Angaben 2004 von den Briten ausgeliefert worden war. Er fordert der Zeitung »The Times« zufolge eine Entschuldigung von der britischen Regierung.

* Aus: Neues Deutschland, 6. September 2011


Barbarei geht weiter

Von André Scheer / Modaira Rubio, Caracas **

In Libyen droht eine blutige Schlacht um die Städte Sirte und Bani Walid, die noch unter der Kontrolle von Einheiten stehen, die loyal zum langjährigen Staatschef Muammar Al-Ghaddafi geblieben sind. Wie der Verhandlungschef des »Nationalen Übergangsrates«, Abdullah Kenshil, am Montag bestätigte, haben die Verteidiger der beiden Städte eine Kapitulation abgelehnt und angekündigt, einem Angriff durch die Aufständischen und die NATO Widerstand zu leisten. Der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina zufolge berichteten Einwohner von Bani Walid, die die Stadt aus Angst vor den drohenden Kämpfen verlassen haben, die Soldaten Ghaddafis hätten sich mit ihren Waffen aus der Stadt in die nahegelegenen Berge zurückgezogen, um von dort aus Widerstand zu leisten.

Die NATO setzt unterdessen ihre Bombenangriffe auf Libyen fort. Während westliche Medien eifrig den Eindruck verbreiten, der »Nationale Übergangsrat« habe die Lage in dem nordafrikanischen Land praktisch vollständig unter Kontrolle, verteidigte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen der Nachrichtenagentur Reuters zufolge die Fortsetzung des Luftkriegs und behauptete, Pro-Ghaddafi-Kräfte bedrohten noch immer die Bevölkerung, »so daß die NATO-Verbündeten weiter mit Luftangriffen gegen das alte Militär vorgehen« müßten.

In Caracas hat Venezuelas Präsident Hugo Chávez das Vorgehen der Militärallianz in Libyen erneut als »Barbarei« verurteilt. Gegenüber dem staatlichen Fernsehen VTV dementierte er, daß Venezuela sich als Asylland für Ghaddafi bereithalte. »Jede Führungspersönlichkeit, die an der Spitze einer Widerstandsbewegung steht, hat nur einen Ausweg: zu siegen oder zu sterben. Ghaddafi hat zum Guerillakrieg aufgerufen und ist weit davon entfernt, Libyen zu verlassen«, unterstrich Chávez. Zugleich warnte er mögliche Aggressoren, nach dem libyschen Muster gegen Venezuela oder andere Länder Lateinamerikas vorzugehen: »Venezuela ist nicht Nord­afrika«, unterstrich er. Zwar drohe derzeit eine Aggression gegen sein Land nicht unmittelbar, »aber wir stehen auf der Liste«. In Afrika und Südamerika lagerten 40 Prozent der weltweiten Erdölreserven, »daher das militärische Interesse der USA und Europas an diesem Gebiet«, so Chávez.

Auch Kuba hat angekündigt, den libyschen »Nationalen Übergangsrat« nicht anzuerkennen. In einem offiziellen Kommuniqué des Außenministe­riums in Havanna, das die Tageszeitung Granma am Montag veröffentlichte, informiert die Regierung über den Abzug der kubanischen Diplomaten aus Libyen und ruft erneut zu einer Verhandlungslösung auf. Kuba werde nur eine Regierung anerkennen, »die sich in diesem Land auf legitime Weise ohne ausländische Intervention durch den freien, souveränen und einzigen Willen des libyschen Brudervolkes konstituiert«, heißt es in dem Dokument.

Auch Nicaragua sieht in dem Führungsgremium der Rebellen keine legitime Vertretung des libyschen Volkes, sondern lediglich ein Instrument der NATO-Interventionisten, erklärte in Managua Präsident Daniel Ortega. Eine neue Regierung könne sich nur in einem Klima des Friedens durch eine Entscheidung des libyschen Volkes legitimieren, so Ortega.

** Aus: junge Welt, 6. September 2011


Appellierer des Tages: Human Rights Watch ***

In einem bewegenden Appell hat die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die vom Westen an die Macht gebrachten libyschen Aufständischen aufgefordert, ihre organisierten rassistischen Übergriffe gegen Schwarze zu beenden. Tatsächlich finden in den »befreiten« Gebieten regelrechte Pogrome gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe statt. Den Angreifern ist es egal, ob es sich bei den Opfern um Migranten aus den südlichen Nachbarstaaten Libyens oder um Mitglieder des »schwarzen Stammes« des Landes handelt. Letzterer siedelt im Südwesten Libyens, wo sich nach dem Verbot des Menschenhandels Ende des 19. Jahrhunderts die befreiten Sklaven niedergelassen hatten.

Der »schwarze Stamm« stand immer loyal zu Oberst Muammar Al-Ghaddafi, denn der hatte sich wie kein anderer in der arabischen oder der westlichen Welt nicht nur für die schwarzen Bürger seines Landes und deren Gleichberechtigung eingesetzt, sondern auch für die Migranten aus ganz Schwarzafrika. Zugleich machte er sich für die schwarzafrikanisch-arabische Einheit stark. Zum Ärger vieler rechtskonservativer Araber im In- und Ausland hat Ghaddafi auf dem Arabisch-Afrikanischen Gipfel in Tripolis im Oktober 2010 als bisher einziger politischer Führer der arabischen Welt sogar formell um Vergebung gebeten für die Rolle der Araber im Handel mit afrikanischen Sklaven. Noch heute fällt es vielen Arabern schwer, ihre Herrenmenschenmentalität gegenüber Schwarzen abzulegen.

Pauschal als Söldner Ghaddafis verurteilt, werden Dunkelhäutige laut westlichen Agenturmeldungen inzwischen im befreiten Tripolis »zu Tausenden in provisorisch errichteten Gefängnissen zusammengetrieben«. Zugleich mehren sich die Meldungen über Morde und Mißhandlungen. Die NATO hat den rassistischen Verbrechern den Weg freigebombt. (rwr)

*** Aus: junge Welt, 6. September 2011


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