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Rassistische Arroganz

Der Krieg gegen Libyen wird im Namen der »internationalen Gemeinschaft« geführt. Dabei machen bevölkerungsreichste Länder und ein EU-Schlüsselstaat nicht mit

Von Domenico Losurdo *

Mit einem einsamen Veto hatten die USA eine UN-Resolution blockiert, die den kolonialen Expansionismus Israels im besetzten Palästina verurteilte. Und jetzt spielen sie sich erneut als Wortführer und Vertreter der »internationalen Gemeinschaft« auf. Sie haben den Sicherheitsrat der UNO einberufen, aber nicht etwa, um die Intervention der saudiarabischen Truppen in Bahrain zu verurteilen, sondern um die Anordnung der Flugverbotszone und andere militärische Aktionen gegen Libyen zu fordern und durchzusetzen.

Ein paar militärische Aktionen waren im übrigen schon einseitig von Washington und einigen seiner Verbündeten unternommen worden: Dies beweisen die Konzentration der US-amerikanischen Kriegsflotte vor der libyschen Küste, also der Rekurs auf das klassische kolonialistische Instrument der Kanonenboot-Politik. Aber das reicht US-Präsident Barack Obama noch nicht: Mehrmals in der letzten Zeit hatte er vom libyschen Staatschef Muammar Al-Ghaddafi drohend verlangt, die Macht abzugeben. Er hatte das libysche Heer aufgefordert, einen Staatsstreich zu inszenieren. Am schlimmsten ist aber etwas anderes. Schon seit längerer Zeit haben die USA mit Frankreich und England ihre Agenten ausgeschickt, um die libyschen Funktionäre in eine Zwangslage zu bringen: Entweder stellt ihr euch auf die Seite der Rebellen, oder ihr werdet dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag übergeben, wo ihr den Rest eurer Tage als verantwortlich für »Verbrechen gegen die Menschheit« im Gefängnis verbringen werdet.

Ghaddafis Scheinangriffe

Um die Wiederaufnahme der infamsten kolonialistischen Praktiken zu verdecken, ist eine der üblichen ungeheuren multimedialen Manipulations- und Desinformationskampagnen entfesselt worden. Es genügt allerdings schon, etwas aufmerksamer die bürgerliche Presse zu lesen, um den Betrug zu bemerken. Tag für Tag ist wiederholt worden, die Flugzeuge Ghaddafis hätten die Zivilbevölkerung bombardiert. So schrieb Guido Ruotolo in La Stampa vom 1.März: »Es stimmt, wahrscheinlich hat überhaupt kein Bombardement stattgefunden«. Hat sich die Lage an den darauffolgenden Tagen radikal geändert? In der Zeitung Corriere della sera vom 18. März berichtet Lorenzo Cremonesi aus Tobruk: »Und wie es schon in den anderen Orten geschehen ist, wo die Luftwaffe eingegriffen hat, handelte es sich hauptsächlich um Warnangriffe. ›Sie wollten uns erschrecken. Viel Lärm und kein Schaden‹ hat uns am Telefon einer der Sprecher der provisorischen Regierung gesagt.« Es sind also gerade die Rebellen, die den »Genozid« und die »Massaker« bestreiten, die als Rechtfertigung für die »humanitäre« Interven­tion angeführt werden.

Was übrigens die Rebellen anbetrifft: Tag für Tag werden sie als Verfechter der reinen Demokratie gerühmt, doch folgendermaßen wird ihr Rückzug vor der Gegenoffensive des libyschen Heeres von Lorenzo Cremonesi im Corriere della sera vom 12. März beschrieben: »In der allgemeinen Verwirrung auch Plünderungsepisoden. Besonders gut sichtbar im Hotel El Fadeel, wo sie Fernseher, Decken, Matratzen mitgenommen und die Küchen in eine Mülldeponie, die Korridore in schmutzige Nachtlager verwandelt haben.« Das scheint nicht gerade das Verhalten einer Befreiungsbewegung zu sein. Zumindest kann gesagt werden, daß die Auffassung, in Libyen würden das Reich der Finsternis und das des Lichts miteinander kämpfen, jeder Grundlage entbehrt.

Mehr noch. Tag für Tag wird die »Grausamkeit« der Repression in Libyen denunziert. Lesen wir jetzt das, was Nicholas D. Kristof in der International Herald Tribune aus Bahrain berichtet: »In den letzten Wochen habe ich Leichen von Demonstranten gesehen, die aus nächster Nähe erschossen worden sind, ich habe ein Mädchen gesehen, das sich nach den Prügeln vor Schmerzen wand, ich habe gesehen, wie das Personal der Krankenwagen geschlagen wurde, weil es versuchte, Demonstranten zu retten.« Und weiter noch: »Ein Video aus Bah­rain scheint Sicherheitskräfte zu zeigen, die aus geringer Entfernung einen unbewaffneten Mann mittleren Alters mit einer Tränengaspatrone auf die Brust treffen. Der Mann fällt zu Boden und versucht aufzustehen. Daraufhin schießen sie ihm eine Patrone in den Kopf.« Sollte das noch nicht genügen, so sollte man beachten, daß es »in den letzten Tagen noch viel schlimmer geworden ist«. Noch vor der Repression kommt die Gewalt schon im täglichen Leben zum Ausdruck: Die schiitische Mehrheit ist einem »Apartheid«-Regime unterworfen.

Der Unterdrückungsapparat wird noch verstärkt durch »ausländische Söldner« und US-amerikanische »Panzer, Waffen und Tränengas«. Die Rolle der USA ist entscheidend, wie der Journalist der International Herald Tribune erläutert, als er eine Episode beschreibt, die an sich schon aufklärend ist: »Vor ein paar Wochen ist Michael Slackman, mein Kollege von der New York Times, von den Sicherheitskräften Bahrains verhaftet worden. Er hat mir erzählt, daß sie ihre Waffen auf ihn richteten. Da er fürchtete, sie würden abdrücken, holte er seinen Paß heraus und schrie, daß er ein amerikanischer Journalist sei. Von da an änderte sich plötzlich die Stimmung; der Anführer der Gruppe näherte sich und gab Slackman die Hand, wobei er freundlich sagte: ›Keine Bange! Wir mögen die Amerikaner!‹«

Tatsächlich ist in Bahrain die Fünfte Flotte der US-Armee stationiert. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß sie die Aufgabe hat, die Demokratie zu verteidigen bzw. aufzuzwingen; natürlich nicht in Bahrain und nicht einmal in Jemen, sondern nur in … Libyen und in den jeweils von Washington ins Visier genommenen Ländern.

Erdölhunger gewachsen

So abstoßend die Heuchelei des Imperialismus auch sein mag, ist sie kein ausreichender Grund, um die Verantwortung Ghaddafis mit Schweigen zu übergehen. Zwar hat er historisch betrachtet das Verdienst, die Kolonialherrschaft und die Militärstützpunkte hinweggefegt zu haben, die auf Libyen lasteten, aber es ist ihm nicht gelungen, eine wirklich große Führungsgruppe aufzubauen. Außerdem hat er die Erdöleinnahmen dazu benutzt, extravagante »internationalistische« Projekte im Zeichen des »Grünen Buches« zu fördern, statt eine nationale moderne und unabhängige Wirtschaft zu entwickeln. Auf diese Weise ist eine einzigartige Gelegenheit verlorengegangen, um der Stammeskultur Libyens und dem Dualismus zwischen Tripolitanien und Cyrenaica ein Ende zu bereiten und um den wiederholten Machenschaften des Imperialismus eine solide ökonomisch-gesellschaftliche Struktur entgegenzusetzen.

Und dennoch haben wir auf der einen Seite einen Exponenten der dritten Welt, der grob, verwirrt, widersprüchlich und bizarr eine Linie nationaler Unabhängigkeit verfolgt; auf der anderen Seite einen Leader, der in Washington elegant, geschliffen und raffiniert die Argumente des Neokolonialismus und des Imperialismus vorbringt. Nun gut, nur wer der Emanzipation der Völker und der Demokratie in den internationalen Beziehungen gleichgültig gegenübersteht oder wer sich vom Auftreten statt von politischen Überlegungen leiten läßt, kann für Barack Obama (und David Cameron und Nicolas Sarkozy) Partei nehmen.

Ist Obama wirklich elegant und fein, der – obwohl mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – den weisen Vorschlag der lateinamerikanischen Länder völlig unbeachtet läßt, das heißt die Aufforderung von Hugo Chávez und anderer an die in Libyen im Kampf befindlichen Parteien, sich anzustrengen, den Konflikt friedlich beizulegen und die territoriale Intergrität des Landes zu retten? Gleich nach der Abstimmung im Sicherheitsrat ging der US-Präsident über die soeben verabschiedete Resolution hinaus und hat Ghaddafi ein Ultimatum gestellt, noch dazu mit dem Anspruch, es im Namen der »internationalen Gemeinschaft« zu tun. Seit jeher zeigt die herrschende Ideologie ihren Rassismus, indem sie die Menschheit mit dem Westen identifiziert; doch diesmal sind aus der »internationalen Gemeinschaft« nicht nur die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, sondern sogar ein Schlüsselstaat der Europäischen Union ausgeschlossen. Sich als Wortführer der »internationalen Gemeinschaft« gebärdend, hat Obama eine rassistische Arroganz an den Tag gelegt, die noch schlimmer ist als die Arroganz derjenigen, die in der Vergangenheit seine Vorfahren versklavt haben.

Ist der britische Premier Cameron etwa elegant und fein, der, um die innere Opposition gegen den Krieg zu überwinden, verbissen wiederholt, daß dieser den »nationalen Interessen« Großbritanniens diene, so, als ob der Appetit auf das libysche Erdöl nicht schon klar genug wäre? Wer weiß, ob der Hunger nicht noch größer geworden ist, nachdem die Tragödie Japans einen dunklen Schatten auf die Atomenergie geworfen hat?

Und was soll man von Sarkozy sagen? In den Zeitungen kann man ohne weiteres lesen, daß er nicht nur ans Erdöl, sondern auch an die Wahlen denkt: wie viele Libyer muß der französische Präsident umbringen, um seine Skandale und seine Taktlosigkeiten vergessen zu lassen und sich so die Wiederwahl zu sichern?

Soviel ist klar: Die Aggression gegen Libyen läßt die Wiederaufnahme des Kampfes gegen den Krieg und den Imperialismus dringlicher denn je werden.

[Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer]

* Domenico Losurdo lehrt Philosophie an der Universität Urbino.

Aus: junge Welt, 9. April 2011



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