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Zivilisiertes Massaker

Lenin kommentierte 1912 die italienische Kriegsführung in Nordafrika und die Eroberung des heutigen Libyen *

Zur Ablenkung von innenpolitischen Problemen, angestachelt von einer rechtsnationalistischen Bewegung und einer Kampagne der großen Tageszeitungen eröffnete die Regierung des italienischen Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti (1842–1928) am 29. September 1911 einen »populären« Krieg gegen das Osmanische Reich. Dieses hatte zuvor ein Ultimatum zurückgewiesen, mit dem Rom die sofortige Abtretung von Tripolitanien und der Cyrenaika forderte.

Tripolis wurde nach Beschuß am 4. Oktober 1911 erobert, bis zum 14. Oktober andere wichtige Küstenorte. Die einheimische Bevölkerung begrüßte die italienischen Truppen aber nicht als Befreier, sondern als Invasoren. Am 23. Oktober 1911 veranstalteten die Eroberer ein Pogrom, dem Tausende zum Opfer fielen. Während des Krieges kam es zum ersten Aufklärungsflug und zum ersten Luftangriff der Geschichte – einer »Vergeltungsaktion« gegen Zivilisten.

Am 18. Oktober 1912 trat das Osmanische Reich im Frieden von Ouchy (bei Lausanne/Schweiz) Tripolitanien und die Cyrenaika an Italien ab. Der faschistische Diktator Benito Mussolini (1883–1945) ließ die Bewohner der Küstenregionen beider Gebiete ab 1922 vertreiben, um Platz für italienische Siedler zu schaffen. 1928 kam es dabei zum Einsatz von Giftgas gegen Aufständische. 1930 wurden etwa 100000 Menschen in Wüsten- Konzentrationslager deportiert, wo knapp die Hälfte bis zum Sommer 1933 umkam. Die seit 1934 »Italienisch-Libyen« genannte Kolonie wurde während des Zweiten Weltkrieges nach der Niederlage Deutschlands und Italiens in Nordafrika 1943 unter britisch-französische Verwaltung gestellt und 1951 als Libyen in die Unabhängigkeit entlassen.

Telegrafischen Meldungen zufolge haben die Bevollmächtigten Italiens und der Türkei die vorläufigen Friedensbedingungen unterzeichnet.

Italien »hat gesiegt«. Vor einem Jahr ist es wie ein Räuber in die türkischen Gebiete in Afrika eingefallen, und von nun an wird Tripolis zu Italien gehören. Es wird nicht unangebracht sein, diesen typischen Kolonialkrieg eines »zivilisierten« Staates des 20. Jahrhunderts einmal näher zu betrachten.

Wodurch war dieser Krieg hervorgerufen worden? Durch die Habgier der italienischen Finanzmagnaten und Kapitalisten, die einen neuen Markt, die Erfolge des italienischen Imperialismus brauchten.

Was war das für ein Krieg? Ein vervollkommnetes, zivilisiertes Massaker, ein Abschlachten der Araber mit »neuzeitlichsten« Waffen.

Die Araber setzten sich verzweifelt zur Wehr. Als die italienischen Admirale zu Beginn des Krieges unvorsichtigerweise 1200 Matrosen landeten, haben die Araber sie überfallen und etwa 600 Mann niedergemacht. »Zur Strafe« wurden etwa 3000 Araber getötet, ganze Familien ausgerottet, Frauen und Kinder hingemetzelt. Die Italiener sind eine zivilisierte, konstitutionelle Nation.

Nahezu 1000 Araber wurden gehängt.

Die Verluste der Italiener beliefen sich auf mehr als 20000 Mann; darunter 17429 Kranke, 600 Vermißte und 1405 Tote.

Dieser Krieg hat die Italiener über 800 Millionen Lire, d.h. über 320 Millionen Rubel, gekostet. Furchtbare Arbeitslosigkeit, Stagnation der Industrie, das sind die Folgen des Krieges.

Die Araber haben etwa 14800 Tote. Trotz des »Friedens« wird der Krieg in Wirklichkeit weiter fortdauern, denn die Araberstämme im Innern des afrikanischen Kontinents, weitab von der Küste, werden sich nicht unterwerfen. Man wird sie noch lange »zivilisieren« – mit dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch die Vergewaltigung ihrer Frauen.

Italien ist natürlich nicht besser und nicht schlechter als die übrigen kapitalistischen Länder. Sie alle werden gleichermaßen von der Bourgeoisie regiert, die vor keinem Gemetzel zurückschreckt, wenn es gilt, eine neue Profitquelle zu erschließen.

Prawda Nr. 129, 28. September 1912. Unterschrift: T. Hier zitiert nach: W. I. Lenin: Werke Band 18, Berlin 1965, Seite 329/330

* Dokumentiert in: junge Welt, 30. April 2011


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