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Lehren aus Libyen

Kosten des Krieges für den Westen höher als Nutzen: Hoffnungsträger der NATO ohne Hausmacht, Tausende Luftabwehrraketen verschwunden. Konflikte zwischen Rebellengruppen

Von Rainer Rupp *

Die Tatsache, daß die libyschen Rebellen am Wochenende ihre Siegesfeier in Bengasi abgehalten haben und nicht in Tripolis, spricht dafür, daß die Hauptstadt für den »Nationalen Übergangsrats« (NTC) noch lange nicht sicher ist. Neu aufflackernde Kämpfe in verschiedenen Stadteilen ebenso wie das Auftauchen von bisher unbekannten Widerstandsgruppen wie z. B. die »Libysche Befreiungsfront«, die loyal zur alten Regierung stehen, bestärken diesen Eindruck. Auch die Forderung des NTC-Chefs Mustafa Abdel Dschalil, die NATO müsse weiterbomben, um die Flucht oder die Neuformierung von Ghaddafi-Getreuen zu verhindern, legt nahe, daß sein Übergangsrat nicht so fest im Sattel sitzt, wie westliche Median glaubhaft machen wollen.

Vor dem Hintergrund, daß nur etwa ein Drittel der libyschen Bevölkerung in dem stark vom Islamismus geprägten, rebellischen Osten des Landes wohnen und die Rebellen sich im Westen des Landes als Besatzer, Mörder und Plünderer selbst geächtet haben, erscheinen die Aussichten auf Aussöhnung und Frieden zwischen den so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gering. Die Tatsache, daß die Rebellen aus Bengasi und die Islamisten aus Misurata über die Köpfe der Mehrheit hinweg die Richtlinien der zukünftigen Politik bestimmen wollen, programmiert weitere Konflikte in diesem immer noch von Stammeskultur geprägten nordafrikanischen Land.

Erschwerend kommt hinzu, daß durch Krieg, Umsturz und totale Desorganisation die Wirtschaft Libyens danieder liegt, und selbst die siegreichen Rebellenkrieger kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz haben. Dafür gibt es Waffen mehr als genug. Erfahrung aus anderen Ländern zeigen, daß in solchen Situationen die bis an die Zähne bewaffneten Arbeitslosen sich in sektiererischen oder kriminellen Banden zusammenschließen und den Rest der Bevölkerung terrorisieren. Schon jetzt kommt es im Streit um Beute zunehmend zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Rebellengruppen.

Derweil ist es den im Dienst westlicher Geheimdienste aus dem Exil heimgekehrten Libyern nicht gelungen, sich an die Spitze der »Revolution« zu setzen. Die Hoffnungsträgern der NATO haben keine Hausmacht. Dagegen stellen die kampferprobten Dschihadisten-Brigaden, von denen bereits viele in Afghanistan oder im Irak unter dem Label „Al-Qaida“ gegen die Amerikaner gekämpft haben, unter den Rebellen die eigentliche militärische Macht. Sie sind nicht bereit, sich den Exilanten unterzuordnen oder sich von denen den Sieg stehlen zu lassen. Um die westorientierten Libyer doch noch an die Macht zu bringen, müßte die NATO diesen ein zweites Mal den Weg freibomben, nun gegen die Dschihadisten. Diese Überlegung dürfte mit ein Grund für das lange Zögern der NATO sein, ihre Bombenangriffe einzustellen, obwohl das Land vom NTC längst als »befreit« erklärt worden war.

Letztlich dürften aber auch aus politischen, strategischen und wirtschaftlichen Gründen die Kosten des Libyen-Krieges die möglichen Vorteile der westlichen Siegermächte bei weitem übersteigen. Besonders besorgt sind die US-Amerikaner über das Verschwinden von mindestens zehntausend tragbaren Luftabwehrraketen aus den libyschen Arsenalen. Wenn man bedenkt, daß es Raketen dieses Typs waren, die in Afghanistan das Los der Roten Armee besiegelten, kann man die Aufregung in Washington verstehen. Auf Grund der guten Beziehungen der libyschen Rebellen zu anderen Al-Qaida-Gruppierungen dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis diese Raketen womöglich auch gegen zivile Flugzeuge zum Einsatz kommen.

Derweil besteht durch den Strom von billigen Waffen, Munition und Sprengstoffen in Libyens Nachbarländer und darüber hinaus, die große Gefahr einer weiteren Destabilisierung der gesamten Region. Das war mit ein Grund, weshalb die Staats- und Regierungschefs der Afrikanischen Union (AU) die NATO-Intervention gegen Libyen strikt abgelehnt hatten und jetzt die Brüsseler Kriegsallianz für die gefährlichen Entwicklungen verantwortlich machen.

Libyen ist ein Lehrbeispiel für die Länder der Welt geworden, dem Westen nicht zu vertrauen. Ghaddafi hatte um die Jahrtausendwende zwecks Wiederherstellung guter Beziehungen mit dem Westen militärisch abgerüstet und auch seine Programme zu Herstellung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen eingestellt. Für diese Selbstentmachtung wurde Ghaddafi seinerzeit von den Führern der westlichen Staaten persönlich in höchsten Tönen gelobt. Von den USA bekam er sogar ein Nichtangriffsversprechen. Inzwischen hat Nordkorea bereits erklärt, es werde sich niemals von noch so süßen Versprechungen der USA hinters Licht führen lassen. Auch andere Länder dürften durch das Libyen-Beispiel in ihrer Auffassung bestärkt worden sein, daß nur Atomwaffen einen wirksamen Schutz vor den westlichen Imperialisten bieten.

Der Fall Ghaddafi hat ebenfalls gezeigt, daß gute persönliche Beziehungen zur den westlichen Machthabern keine Sicherheit gegen Angriffe bieten. Dagegen legt der Fall Syrien nahe, daß durch gute Beziehungen zu Moskau und Peking westliche Bemühungen um ein UN-Angriffsmandat mit einem Veto blockiert werden. Diese Lehre dürften die Ländern der Dritten Welt, insbesondere in Afrika begriffen haben, wovon nicht der Westen, sondern Rußland und China diplomatisch und wirtschaftlich profitieren werden.

Und letztlich ist es die NATO selbst, die durch die Libyen-Intervention so zerstritten war wie nie zuvor. Nur acht Mitgliedländer haben sich an dem Krieg direkt beteiligt. Zu gemeinsamen Aktionen ist sie offensichtlich kaum noch fähig.

* Aus: junge Welt, 28. Oktober 2011


Klage gegen NATO

Nächste Runde Den Haag **

Die Familie des getöteten libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi will vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag gegen die NATO klagen. Grund sei die Verwicklung des Militärbündnisses in dessen mutmaßliche Ermordung, sagte der französische Anwalt der Familie, Marcel Ceccaldi, am Mittwoch (26. Okt.) der Nachrichtenagentur AFP in Paris. Der Angriff der NATO auf den Konvoi des fliehenden Ghaddafi habe direkt zu dessen Tod geführt. Die »absichtliche Tötung« sei nach den Statuten des Strafgerichtshofs ein Kriegsverbrechen, hob er hervor. Wann die Klage genau eingereicht werden solle, konnte der Anwalt noch nicht sagen.

Ghaddafi war am Donnerstag (20. Okt.) vergangener Woche in seiner Geburtsstadt Sirte getötet worden. Er hatte versucht, aus der umkämpften Stadt zu flüchten, doch der Konvoi war durch einen NATO-Angriff gestoppt worden. Die Allianz behauptete, sie habe von der Anwesenheit Ghaddafis zu diesem Zeitpunkt nichts gewußt. Der gestürzte Staatschef war danach festgenommen und getötet worden.

Auch die Regierung Venezuelas forderte am Mittwoch (Ortszeit) eine unabhängige internationale Untersuchung des Todes Ghaddafis und verurteilte den Beifall führender Vertreter der UNO und der NATO für dessen Ermordung. Entsprechend der Römischen Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs habe es sich bei der Tötung Ghaddafis um ein Kriegsverbrechen gehandelt, die Verantwortlichen dafür müßten angeklagt werden, erklärte Venezuelas UN-Botschafter Jorge Valero. Die NATO werde immer mehr zum »bewaffneten Arm des Sicherheitsrates« und dieses UN-Gremium selbst zu einem Instrument für Krieg und Unsicherheit, so der Diplomat.

Unterdessen gab es am Donnerstag (27. Okt.) Spekulationen, Ghaddafis Sohn Saif Al-Islam wolle sich dem Internationalen Strafgerichtshof stellen. Dazu habe der 39jährige, der um sein Leben fürchte, ein Flugzeug und Sicherheiten verlangt, verlautete aus Kreisen des libyschen »Nationalen Übergangsrates« (NTC). Saif al-Islam habe Libyen nicht verlassen und halte sich bei einem einflußreichen Tuareg versteckt, hieß es.
(PL/AFP/Reuters/jW)

** Aus: junge Welt, 28. Oktober 2011


"Wir kamen, wir sahen, er starb"

Wie US-Außenministerin Clinton über die Ermordung Ghaddafis triumphierte

Von Rainer Rupp ***


Bei einem Auftritt in der »Tonight Show« des populären TV-Moderators Jay Leno am Dienstag (25. Okt.) erklärte US-Präsident Barack Obama unter Bezugnahme auf die Ermordung seines libyschen Amtskollegen Muammar Al-Ghaddafi: »Man wünscht natürlich niemandem solch ein Ende, aber es sendet eine klare Botschaft an die Diktatoren rund um den Erdball.« Die Warnung war gewiß nicht an die US-Verbündeten wie die feudalen Gewaltherrscher in Bahrain und Saudi-Arabien oder an Präsident Saleh in Jemen gerichtet, dessen Armee seit Monaten unbewaffnete Demonstranten gleich dutzendweise erschießt.

Wen genau Washingtons im Visier hat, hatte der einflußreiche republikanische Senator John McCain am Freitag vergangener Woche in einem Interview mit BBC deutlich gemacht. Die Ermordung Ghadaffis müsse den Regierungs­chefs von Rußland, China und Syrien »allen Grund geben, sich unwohl zu fühlen«, sagte der Mann, der bei den letzten US-Präsidentschaftswahlen gegen Obama verloren hatte. »Ich denke, daß Diktatoren rund um die Welt, einschließlich Baschar Al-Assad, wahrscheinlich sogar Putin und womöglich auch einige Chinesen, vielleicht sogar alle, ein bißchen nervöser sind, weil sie gesehen haben, wie wir das libysche Volk bei seinem Aufstand unterstützt haben. Es ist nicht nur ein arabischer Frühling, sondern ein Frühling für alle«, so McCain, der bequemerweise vergessen hatte. wie er noch vor wenigen Jahren Oberst Ghaddafi in höchsten Tönen gelobt hatte.

Noch am gleichen Tag verurteilte der russische Außenminister Sergej Lawrow »die exotischen Bemerkungen« des US-Senators. Der würde »nicht die Positionen der USA bestimmen«, beruhigte Lawrow. Bei einem Sieg der Republikaner bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr könnte das schon anders sein.

Auch wenn Obama die Art kritisiert hat, wie die Leiche Ghadaffis von den Rebellen in Misurata öffentlich zur Schau gestellt wurde, so ließ er die unappetitlichen Freudentänze führender westlichen Politiker, einschließlich seiner eigenen Außenministerin Hillary Clinton, über den »Erfolg« des US-und NATO-unterstützten Lynchmobs unerwähnt. Als Außenministerin Clinton während der Aufzeichnung eines CBS-Interviews die Nachricht von Ghaddafis Ermordung erhalten hatte, strahlte sie in die Fernsehkameras und erklärte in Anlehnung an Julius Caesars imperialen Spruch »veni, vidi, vici - ich kam, sah und siegte«: »We came, we saw, he died - Wir kamen, wir sahen, er starb.«

Einzig Rußlands Botschafter bei der NATO, Dmitri Rogozin, verurteilte den »sadistischen Triumphalismus« der Führer der »Weltdemokratien« und fragte: »Sind sie deshalb so glücklich, weil sie sich daran erinnern, wie sie als Kinder im Keller Katzen erhängt haben?« Kritik einer etwas anderen Art kam auch vom republikanischen Kongreßabgeordneten in Washington Jeff Landry, der mit Blick auf Obamas Friedensnobelpreis erklärte. »Wenn man sich ansieht, wie viele Menschen er seit der Verleihung rund um die Welt umgebracht hat, dann fragt man sich, nach welchen neuen Kriterien der Preis ausgeschrieben wird.

*** Aus: junge Welt, 28. Oktober 2011


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