Realität war schneller
Legenden über Libyen
Von Knut Mellenthin *
»Es ist ein trauriger Tag für die Welt, aber ein großer Triumph für die »siegreichen Staatsmänner« (Spiegel online) Nicolas Sarkozy und David Cameron: Gemeinsam haben sie in einem über fünfmonatigen Bombenkrieg einen Gegner in die Knie gezwungen, der zur militärischen Gegenwehr gegen die Lufthoheit der NATO keinen Tag lang in der Lage war.
Die Legende, die man uns allen Ernstes zumutet, besagt, daß die Intervention praktisch im Alleingang von dem französischen Neokonservativen Bernard-Henri Lévy veranlaßt worden sei. Der habe nämlich aus reiner Sympathie für den libyschen Freiheitskampf seinen Duzfreund Sarkozy dazu gebracht, am 10. März zwei Sprecher der Rebellen zu empfangen. Frankreichs Präsident sei von dieser Begegnung so begeistert gewesen, daß er sofort im Anschluß daran als erstes Staatsoberhaupt der Welt den erst knapp zwei Wochen vorher gebildeten Nationalen Übergangsrat der Aufständischen als einzige legitime Vertretung des libyschen Volkes anerkannte.
Als ob die französische Regierung und ihre Dienste mit den Politikern, die sich nach dem 17.Februar an die Spitze des bewaffneten Aufstands in Libyen gestellt hatten, nicht schon lange vorher in Verbindung gewesen wären.
Ein Datum, das in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt haben könnte, war der 2. November vorigen Jahres. An diesem Tag unterzeichneten Frankreich und Großbritannien einen langfristigen Verteidigungs- und Sicherheitspakt. Unter anderem sieht dieser die gemeinsame Nutzung der Flugzeugträger beider Streitkräfte, die Aufstellung einer 10 000 Mann starken gemeinsamen Interventionsstreitmacht und eine »beispiellos neue Ebene der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Atomraketen« vor, wie der britische Guardian am 2.November 2010 schrieb. Der Vertrag kann, wenn man das in diesen Tagen arg strapazierte Wort benutzen will, als Grundlage eines französisch-britischen Sonderwegs interpretiert werden.
Teil der damaligen Vereinbarungen zwischen den beiden Staaten war eine gemeinsame Militärübung unter dem Namen »Southern Mistral«. Das angenommene Szenario: In einem südlich von Frankreich gelegenen Staat mit dem Phantasienamen Southland herrscht ein besonders autoritäres Regime, das »Frankreichs nationalen Interessen« widerspricht. Der bisherige Diktator tritt zurück und übergibt die Macht seinem Sohn. Von diesem Zeitpunkt an wird Südlands Politik erheblich aggressiver, es kommt zu Angriffen gegen das französische Territorium. Frankreich, das von seinem Verbündeten Großbritannien unterstützt wird, entscheidet sich, dem Gegner seine »Entschlossenheit zu demonstrieren«. Zu diesem Zweck beginnt es, gestützt auf eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, mit Luftangriffen gegen Südland.
Geplanter Zeitpunkt der Übung: 21. bis 25. März. Die Wirklichkeit war schneller: Am 19. März begannen Frankreich und Großbritannien mit Unterstützung der USA den Krieg gegen Libyen.
* Aus: junge Welt, 2. September 2011
Beuteverteilung in Paris
Von Arnold Schölzel **
Mehr als 20000 Luftangriffe flog die NATO zur Unterstützung der von westlichen Geheimdiensten trainierten und gelenkten Aufständischen in Libyen. Weil Frankreich ein Drittel der Flüge bestritt, habe es – war jüngst in einer französischen Fernsehsendung zu hören – auch einen Anspruch auf ein Drittel des libyschen Öls. Am Donnerstag (1. Sept.) sollte im Pariser Elysée-Palast die Ernte des Feldzugs eingefahren werden. Dorthin hatte Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy die »Freunde Libyens« aus 60 Ländern und Organisationen eingeladen, einschließlich Bundesrepublik, China und Rußland. Letzteres erkannte vorab den »Nationalen Übergangsrat« als Vertreter Libyens an. Noch im Juli hatte Rußland eine solche Anerkennung abgelehnt. China erkannte den Übergangsrat nicht offiziell an, erklärte aber, die Entscheidung des libyschen Volkes zu respektieren und der »bedeutenden Rolle« des Rebellengremiums Rechnung zu tragen.
Kurz vor Beginn der Konferenz, die bei jW-Redaktionsschluß noch andauerte, hob die EU die gegen das nordafrikanische Land verhängten Sanktionen teilweise auf. Wie die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in Brüssel mitteilte, wurden die eingefrorenen Vermögen von 28 Unternehmen wie Banken, Häfen und Ölfirmen wieder freigegeben. Ziel sei es, dem »Nationalen Übergangsrat« der Rebellen und dem libyschen Volk Mittel für den Wiederaufbau der Wirtschaft des Landes zukommen zu lassen, erklärte Ashton.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) erklärte, die Aufhebung von Sanktionen und die Freigabe eingefrorener libyscher Gelder seien für »schnelle humanitäre Hilfe und einen erfolgreichen politischen Neuanfang entscheidend«. Vor ihrer Abreise nach Paris kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schnelle Hilfe für die Rebellen an, etwa im Bereich der Wassertechnik, aber auch beim Aufbau demokratischer Strukturen.
Bei dem Treffen, das auf den Tag genau 42 Jahre nach dem Sturz der Monarchie in Libyen und der Schließung der US-Militärbasen in dem Land stattfand, wurden die Rebellen vertreten vom Präsidenten des »Nationalen Übergangsrates«, Mustafa Abdel Dschalil, und dessen Regierungschef Mahmud Dschibril. Erwartet wurde, daß die Rebellenvertreter ihren Finanzbedarf für die kommenden Monate anmelden und ihre Pläne für die Übergangsphase vorstellen.
Ghaddafis Sohn Saif el Islam rief in einer am Mittwoch abend (31. Aug.) veröffentlichten Audiobotschaft erneut zum Widerstand gegen die Rebellen auf. Zugleich warnte er die Rebellen vor einem Angriff auf Ghaddafis Heimatstadt Sirte. Sein Bruder Saadi bezeichnete die Aufständischen in einem Fernsehinterview dagegen als »Brüder« und signalisierte Bereitschaft, sich zu ergeben. Ghaddafi, der von den Aufständischen in Libyen gesucht wird, kündigte in einer am Donnerstag vom syrischen Satellitensender Arrai in Auszügen verbreiteten Botschaft an, sich »niemals ergeben« und »den Kampf fortsetzen« zu wollen.
** Aus: junge Welt, 2. September 2011
EU hebt Sanktionen teilweise auf
Wiederaufbau der Wirtschaft Libyens soll unterstützt werden ***
Kurz vor Beginn der Libyen-Konferenz in Paris hat die EU die gegen das nordafrikanische Land
verhängten Sanktionen teilweise aufgehoben.
Wie die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Donnerstag in
Brüssel mitteilte, wurden die eingefrorenen Vermögen von 28 Unternehmen wie Banken, Häfen und
Ölfirmen wieder freigegeben. Ziel sei es, dem Übergangsrat der Rebellen und dem libyschen Volk
Mittel für den Wiederaufbau der Wirtschaft des Landes zukommen zu lassen, sagte Ashton. »Die EU
hat in Anbetracht der Entwicklungen vor Ort sehr schnell reagiert.« Die teilweise Aufhebung der
Sanktionen sei ein »klares Zeichen«, dass die EU die Libyer in der Übergangsphase nach dem Sturz
von Staatschef Muammar al-Gaddafi unterstützen wolle. Sie kündigte zudem eine mögliche Hilfe der
EU bei der Polizistenausbildung an.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte Libyen deutsche Hilfe beim Wiederaufbau zu. Als Beispiele
für deutsche Hilfsmöglichkeiten nannte sie Wasserversorgung und technische Unterstützung.
Russland erkannte den Nationalen Übergangsrat der Rebellen als Vertreter Libyens an. Die Führung
in Moskau erwarte, dass alle zwischen Russland und Libyen bestehenden Verträge und
Verpflichtungen von den neuen Machthabern in Tripolis erfüllt würden.
Derweil haben die Aufständischen das Ultimatum gegen die Truppen in Sirte um eine Woche
verlängert. Damit haben die letzten Gaddafi-Getreuen in der rund 75 000 Einwohner zählenden
Stadt bis Sonnabend kommender Woche Zeit, sich zu ergeben. Kampfflugzeuge der NATO
zerstörten in der Nähe von Sirte eine Kommandozentrale und mehrere Raketenstellungen, wie der
Pakt am Donnerstag in Brüssel meldete.
Arabische Medien meldeten am Donnerstag, in einem westlichen Vorort der Hauptstadt Tripolis sei
bereits am Dienstag der letzte Außenminister Gaddafis, Abdelati al-Obeidi, festgenommen worden.
An der Suche nach Gaddafi ist einem Fernsehbericht zufolge eine britische Eliteeinheit beteiligt.
Eine große Zahl von Angehörigen der SAS (Special Air Service) nutze dabei auch Schiffe, die vor
der Küste des Landes vor Anker lägen, berichtete der britische Fernsehsender ITV News. Ein
kleineres SAS-Team agiere von der Rebellenhochburg Bengasi aus. Das Verteidigungsministerium
in London wollte sich zu dem Bericht nicht äußern.
Gaddafi will sich unterdessen »niemals ergeben« und »den Kampf fortsetzen«. Dies kündigte der Ex-
Staatschef in einer am Donnerstag (1. Sept.) vom syrischen Satellitensender Arrai in Auszügen verbreiteten
Botschaft an.
*** Aus: Neues Deutschland, 2. September 2011
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