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Kein Jubel

In Lateinamerika hält sich die Freude über den Sturz Ghaddafis in Grenzen

Von André Scheer *

Während weltweit die meisten Massenmedien bereits den Sturz des libyschen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi gefeiert haben, halten zahlreiche Regierungen in Lateinamerika und Afrika an ihrer Verurteilung der NATO-Intervention gegen das nordafrikanische Land fest. »Der Imperialismus bringt die Völker dazu, sich wie Hunde zu bekämpfen, bewaffnet Gruppen hier und dort, um sie anschließend zu bombardieren und das Land zu besetzen und sich ihre Reserven und ihr Erdöl anzueignen«, erklärte Venezuelas Präsident Hugo Chávez am Dienstag (23. Aug.) in Caracas. Seine Regierung werde in Libyen keine Regierung anerkennen, »die in Folge dieser imperialistischen Aggression installiert« werde. Die einzige legitime Führung des Landes sei die von Muammar Al-Ghaddafi.

In Managua erklärte Bayardo Arce, der als Wirtschaftsberater dem Kabinett von Präsident Daniel Ortega angehört, die nicaraguanische Regierung werde einem Asylantrag Ghaddafis stattgeben, sollte dieser gestellt werden. »Wenn uns jemand um Asyl bitten würde, müßten wir dies positiv erwägen, denn unser Volk erhielt in vielen Ländern Asyl, als uns die Somoza-Diktatur ermordete. Nun müßten wir uns logischerweise ebenso verhalten, wie wir dies ja auch schon getan haben«, sagte Arce. Zugleich erklärte er jedoch, er halte einen solchen Asylantrag des libyschen Staatschefs praktisch für ausgeschlossen, denn er wisse nicht, wie Ghaddafi in das zentralamerikanische Land gelangen sollte: »Wir haben in Libyen nicht einmal eine Botschaft.«

Nicaragua war in den vergangenen Monaten international zu einem der wichtigsten Verbündeten der libyschen Regierung geworden. Nachdem Libyens UN-Botschafter Abdurahman Shalgam zu den Aufständischen übergelaufen war und Washington seinem von Tripolis ernannten Nachfolger Ali Treki die Einreise verweigerte, hatte Nicaraguas früherer Außenminister Miguel d’Escoto auf Bitten der libyschen Regierung im März die Vertretung des nordafrikanischen Landes bei den Vereinten Nationen übernommen. Die den regierenden Sandinisten nahestehenden Medien hatten auch in den vergangenen Tagen keinen Hehl aus ihrer Sympathie für den Widerstand der libyschen Regierungstruppen gegen NATO und Rebellen gemacht. Die Opposition des Landes wertet deshalb den absehbaren Sturz Ghaddafis auch als Niederlage Ortegas. In der stramm rechten Ta­geszeitung La Prensa äußerte deren Kommentator Luís Sánchez Sancho sogar die Hoffnung, »wie der Fall der Berliner Mauer« könne der Sturz Ghaddafis wegweisend für einen erneuten Sturz Ortegas sein. Nach dessen Wahlniederlage 1990 habe Ghaddafi sogar dessen privaten Lebensunterhalt finanziert und ihm auch den Wahlkampf 2006 bezahlt, behauptete Sánchez.

In Quito unterstrich die Regierung Ecuadors, das Schicksal Libyens müsse durch das Volk des nordafrikanischen Landes entschieden werden, »und nicht durch eine Militärallianz, die dort mit Tausenden Bombenangriffen eindringt, um sich in bester Kolonialtradition das Erdölgebiet eines Landes einzuverleiben«. Der für Asien, Afrika und Ozea­nien zuständige Staatssekretär im ecuadorianischen Außenministerium, Rafael Quintero, zeigte sich besorgt über die Verletzung internationaler Abkommen und der Menschenrechte in Libyen und warnte, daß dies als »Modell« dienen könne, um später auch in anderen Ländern zu intervenieren. Er forderte einen sofortigen Rückzug ausländischer Truppen aus Libyen.

* Aus: junge Welt, 25. August 2011

Lesen Sie dazu auch die Stellungnahmen aus der deutschen und britischen Friedensbewegung:

Gaddafis Sturz - Niederlage der UNO
Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag und ein STATEMENT der britischen STOP THE WAR COALITION



Kolonialkrieg gegen Libyen

Von Stella Calloni **

Die Perversion der US-amerikanischen und europäischen Nachrichtenagenturen und ihrer Untergebenen weltweit, die Ereignisse in Libyen als »Bürgerkrieg« zu bezeichnen, belegt, wie aus einer kolonialen Intervention gegen ein Land, das sich die USA und ihre Partner aus diversen Gründen aneignen wollen, eine innere »Rebellion« gemacht wurde, die »humanitär« unterstützt werden mußte.

Die Wahrheit ist, daß das libysche Volk seit Mitte März die ungezügelten Bombenangriffe der NATO gegen ein Land mit sechs Millionen Einwohnern, von dem ein Großteil Wüste ist, ertragen muß. Die Bombardierungen haben im ganzen Land Tod und Zerstörung verursacht, um den Söldnern den Weg zu ebnen, die von Anfang an Motor der angeblichen »Rebellion« des Volkes gegen Muammar Ghaddafi waren.

Es gibt weder ein Bild von dieser »Volks«-Rebellion noch von den angeblichen »Bombenangriffen Ghaddafis auf die Zivilbevölkerung«, der »Entschuldigung«, mit der sie die brutale Intervention inmitten des 21. Jahrhunderts gerechtfertigt haben. Inzwischen wird diese Zivilbevölkerung von ihren »Beschützern« der NATO massakriert und ihre Heime, Schulen, Versorgungszentren, medizinischen Laboratorien, Universitäten, Krankenhäuser zerstört, während das Gebiet mit abgereichertem Uran übersät wird, was für die Zukunft eine menschliche und ökologische Katastrophe bedeutet.

Die von den Vereinten Nationen am 17. März dieses Jahres verabschiedete Resolution 1973, angeblich, um eine Luftblockade über Libyen zu installieren, hatte als einziges Ziel, die Regierung dieses souveränen Landes daran zu hindern, sich zu verteidigen. Diese Resolution wurde angenommen ohne anzuhören, was die direkten Beobachter zu sagen hatten.

Sie sorgten so dafür, daß Libyen keine Luftverteidigung hatte. Und man kann es als ihre moralische Niederlage bewerten, daß dieses Land für fast sechs Monate den Bombenangriffen Widerstand geleistet hat und so beweisen konnte, daß die angeblichen »Rebellen« ohne die NATO nicht existieren würden.

Um einen Eindruck vom Ausmaß der Wahrheit zu bekommen, die die Medien verschweigen, reicht es, sich ein Foto anzusehen, daß in den vergangenen Stunden kursierte und von einigen Medien veröffentlicht wurde. Es zeigt angebliche »libysche Oppositionelle«, deren Erscheinung, Kleidung und Bewaffnung sie zu den typischen Söldnern macht, die die Mächte in diese Region gebracht haben.

Um ihre Intervention beginnen und durchführen zu können, benutzten die USA und ihre Verbündeten die Massenmedien in aller Welt, die in Wahrheit unter ihrer militärischen und Sicherheitskontrolle stehen. In diesem Fall konnten sie auch auf die interessierte oder desinteressierte, aber dasselbe Ziel erfüllende Mitarbeit einiger als fortschrittlich geltender Journalisten und Intellektuellen rechnen, die Komplizen dieser Intervention und des Netzes aus Lügen zu ihrer Rechtfertigung waren.

Um sich rechtfertigen zu können warten diese jetzt darauf, daß die NATO gewinnt und die Geschichte der Sieger über die von der libyschen Regierung begangenen »schrecklichen Menschenrechtsverletzungen« erzählt, um zu verdecken, was die Söldner und Invasionstruppen machen. Wie sie es in Afghanistan, im Irak oder viel früher getan haben.

Haben sie so schnell die nicaraguanischen »Contras« vergessen, als sie von den US-Stützpunkten in Honduras aus das sandinistische Nicaragua angriffen, Dörfer zerstörten, töteten, folterten und Frauen und Mädchen vergewaltigten? Ronald Reagan nannte sie damals »die Freiheitskämpfer«.

Von der CIA und ihren Verbündeten geführte Söldnergruppen »Rebellen« zu nennen bedeutet, es an Respekt für die wirklichen Rebellen fehlen zu lassen, die in aller Welt für ihre Befreiung kämpfen.

Das Volk und die Regierung Libyens hatten nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sich zu verteidigen. Jedes Land der Welt, das aus dem Ausland angegriffen wird, muß dies tun.

** Stella Calloni ist eine bekannte Journalistin und Buchautorin in Argentinien. Ihr Kommentar wurde am Dienstag abend (Ortszeit) von der staatlichen argentinischen Nachrichtenagentur Telam veröffentlicht.

[Übersetzung: André Scheer]

Aus: junge Welt, 25. August 2011 (Kommentar)


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