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Tausende fliehen vor Luftangriffen

Militäreinsatz des Westens lässt Gewalt in Libyen eskalieren / NATO billigte Operationsplan *

In Libyen sind immer mehr Menschen vor der eskalierenden Gewalt auf der Flucht. Seit Beginn der westlichen Luftangriffe verließen nach UN-Angaben Tausende ihre Wohnorte.

Vor allem in dem von Aufständischen kontrollierten Landesosten suchten Flüchtlinge Schutz bei Verwandten und in öffentlichen Gebäuden außerhalb der Gefahrenzonen, teilte das Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Dienstag (22. März) in Genf mit. Die medizinische Versorgung gestalte sich immer schwieriger, Lebensmittel in den umkämpften Gegenden würden knapp. Bis Sonntag flohen seit Beginn der Unruhen laut UNHCR mehr als 320 000 Menschen aus Libyen, 40 000 davon Libyer. Die meisten Flüchtlinge sind Migranten, die in dem Ölland beschäftigte waren.

In der Nacht zu Dienstag hätten Flugzeuge aus den USA, aus Frankreich, Großbritannien, Italien, Dänemark und erstmals aus Spanien das Einhalten der Flugverbotszone überwacht, teilte das britische Militärministerium mit.

Die schweren Luftangriffe auf Ziele in Libyen zeigten auch am vierten Tag in Folge noch keine entscheidende Wirkung. Staatschef Muammar al-Gaddafi geht weiter gegen die Rebellen im Osten des Landes vor. Bei Gefechten in der Stadt Misurata sollen in den vergangenen Tagen 40 Menschen getötet worden sein. Die internationale Kritik am Militäreinsatz nimmt derweil weiter zu. US-Verteidigungsminister Robert Gates kündigte für die nächsten Tage eine Verringerung der Angriffe an. Nach Angaben des britischen Außenministers William Hague wird der Einsatz der Alliierten erst zu Ende sein, »wenn es eine vollständige Waffenruhe und ein Ende der Angriffe auf Zivilisten« gibt.

Die 28 NATO-Staaten einigten sich am Dienstag (22. März) grundsätzlich auf einen Plan zur Durchsetzung des von den Vereinten Nationen beschlossenen Flugverbots über Libyen. Sie vereinbarten nach Angaben von Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen einen entsprechenden Operationsplan. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Streit um die Führungsrolle bei den Militärschlägen beigelegt ist. Damit die NATO tätig werden kann, ist ein weiterer Beschluss der Mitglieder nötig. Dieser wird frühestens an diesem Mittwoch erwartet. Geeinigt hat sich die NATO, im Mittelmeer ein Waffenembargo durchzusetzen. In Kürze sollen Schiffe auf dem Weg in libysche Häfen auf Waffen kontrolliert werden.

Die Bundesregierung will bis zu 300 Soldaten zusätzlich nach Afghanistan schicken. Sie sollen sich an AWACS-Aufklärungsflügen beteiligen und damit die Bündnispartner beim Einsatz in Libyen entlasten. Insgesamt werden damit bis zu 5300 deutsche Soldaten in Afghanistan eingesetzt, mehr als je zuvor seit Beginn des Einsatzes 2001. Die LINKE wertete das als Ausweitung der »mittelbaren Beteiligung Deutschlands am Krieg in Libyen«. Das Kabinett will das AWACS-Mandat heute beschließen. Der Bundestag wird voraussichtlich am Freitag entscheiden.

In der CDU reißt die Kritik an der Stimmenthaltung Deutschlands bei der Libyen-Resolution im Sicherheitsrat nicht ab. Auch SPD und Grüne bekräftigten ihre Kritik am deutschen Abstimmungsverhalten. Dieses sei ein »Desaster«, das Europa für längere Zeit schwächen werde, sagte SPD-Fraktionsvize Gernot Erler.

* Aus: Neues Deutschland, 23. März 2011


Verhandeln statt bomben

Von Rüdiger Göbel **

Unbeeindruckt von der international wachsenden Kritik haben führende NATO-Staaten am Dienstag den vierten Tag in Folge ihre Angriffe auf Libyen fortgesetzt. Ziele seien vor allem Militärflughäfen und Stützpunkte der Marine gewesen, erklärte die westliche Angreiferallianz. Ein Sprecher der libyschen Regierung sagte, die Bomben und Raketen hätten Ziele in den Städten Tripolis, Al-Sawija, Misrata, Sirte und Sebha getroffen. »Es gab zahlreiche Opfer, darunter auch Zivilisten, vor allem auf dem Luftwaffenstützpunkt Al-Kardabija in Sirte.« Eine Ende der Zerstörung der Infrastruktur des nordafrikanischen Landes ist nicht in Sicht. Der UN-Sicherheitsrat lehnte einen Antrag Libyens auf eine Dringlichkeitssitzung wegen der »militärischen Aggression« ab.

Ungeachtet dessen sah sich Pentagonchef Robert Gates bei seinem Besuch in Moskau mit Kriegskritik konfrontiert. Rußlands Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow forderte gegenüber seinem US-amerikanischen Amtskollegen ein Ende der Angriffe auf zivile Ziele. »Leider wurden bei der Militäraktion bereits Zivilisten getötet«, sagte Serdjukow Presseberichten zufolge. »Das kann nicht hingenommen werden.« Serdjukow sprach sich für den Beginn von Verhandlungen in Libyen aus. Auch China bekräftigte gestern die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand und die Aufnahme von Gesprächen. Gates erklärte, man werde »die Intensität in Kürze verringern« – sowie eben die Luftabwehr Libyens zerstört ist.

Die Angreiferallianz hat einen ersten Kampfjet im Kriegsgebiet verloren. Die Maschine ist südöstlich von Bengasi abgestürzt. Dies bestätigte das US-Afrikakommando (AFRICOM) am Dienstag in Stuttgart, das die Libyen-Angriffe leitet. Man gehe zunächst nicht davon aus, daß die Maschine vom Typ F-15 E von feindlichem Beschuß getroffen worden sei, sagte ein Sprecher – eine Standardformulierung, die aus den Kriegen in Jugoslawien, Irak und Afghanistan bekannt ist. Die beiden Piloten hätten sich nach einem Defekt mit dem Schleudersitz retten können und seien in einer Kommandoaktion gerettet worden.

Die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Aufständischen dauern derweil weiter an. Gefechte wurden aus den Städten Adschabija, Al-Sintan und Misrata gemeldet. Aus einem Spiegel-online-Interview mit dem Generalsekretär des sogenannten Nationalen Übergangsrates in Bengasi geht hervor, daß die Aufständischen eine mehrere tausend Personen umfassende Tötungsliste von mutmaßlichen Ghaddafi-Anhängern haben. Gefangene werden auf Seiten der vom Westen gestützten Aufständischen offensichtlich nicht gemacht.

Nach tagelangem Streit haben sich Vertreter der 28 NATO-Staaten auf ein direktes Eingreifen des Militärpakts in den Libyen-Krieg verständigt. So will die Allianz das Waffenembargo durchsetzen – allerdings nur gegen die von Revolutionsführer Muammar Al-Ghaddafi geführten libyschen Regierungstruppen. Darüber hinaus hat der NATO-Rat in Brüssel auch die Pläne für eine Durchsetzung der Flugverbotszone über Libyen abgeschlossen. Das Bündnis könne so die internationale Kriegskoalition gegen Ghaddafi unterstützen, »wenn dies erforderlich ist«, sagte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Dienstag. Gleichzeitig dämpfte er Hoffnungen auf einen baldigen Abzug der rund 130000 Besatzungssoldaten aus Afghanistan.

Zur Entlastung der Kriegspartner will die Bundesregierung für die AWACS-Aufklärungsflüge über Afghanistan bis zu 300 Soldaten zur Verfügung stellen. Der Bundestag soll voraussichtlich am Freitag abstimmen.

** Aus: junge Welt, 23. März 2011


Mit dem »Warschauer Ghetto« in den Krieg

Wie der Grünen-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit und Exaußenminister Joseph Fischer für die Libyen-Angriffe mobil machen

Von Rüdiger Göbel ***


Führende NATO-Staaten führen Krieg gegen Libyen, und Deutschland macht offiziell nicht mit. Nicht wenige beklagen hierzulande, die Bundesregierung habe mit der Enthaltung bei der Ermächtigungsresolution im UN-Sicherheitsrat die BRD international isoliert – und ignorieren dabei geflissentlich, daß es international mehr Kritiker als Unterstützer der Luftangriffe auf das nordafrikanische Land gibt. Je lauter die Forderungen nach einem Bombenstopp werden, dester härtere Geschütze fahren die Kriegsbefürworter auf. Im Zweifelsfall werden historische Analogien aus der Zeit des Faschismus bemüht. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, etwa wettert im Interview mit Spiegel online gegen die deutsche Kriegsabstinenz. »Warum fällt es uns in Deutschland so schwer einzusehen, daß man den Revolutionären in Libyen helfen mußte– weil insbesondere in Bengasi ein Blutbad drohte?« Und dann weiter: »Jeder kennt doch die Bilder vom Warschauer Ghetto, jeder weiß, wie es ist, wenn eine Armee eine Stadt einnimmt. Deshalb sind in Frankreich alle Parteien – einschließlich der Linken – mit dem militärischen Eingreifen in Libyen einverstanden. Ganz anders als in Deutschland.«

Eine ähnliche Keule hatte vor zwölf Jahren Cohn-Bendits Parteifreund Joseph Fischer geschwungen, um die Grünen auf NATO-Kriegskurs gegen Jugoslawien zu bringen. Der damalige Außenminister forcierte neben Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) maßgeblich die deutsche Beteiligung an den völkerrechtswidrigen Angriffen auf Belgrad und andere jugoslawische Städte. Rot-Grün führte 1999 erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten in einen Krieg. Und das ausgerechnet unter Verweis auf den Holocaust. Fischer verglich die Situation im Kosovo damals mit der in den faschistischen Konzentrationslagern: »Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.«

Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, daß der Exaußenminister mit der Haltung der schwarz-gelben Bundesregierung hart ins Gericht geht. In der Süddeutschen Zeitung vom Dienstag bezeichnet Fischer die deutsche Außenpolitik als Farce und die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zur Libyen-Resolution als »skandalösen Fehler«. Die deutsche Außenpolitik habe in den Vereinten Nationen und im Nahen Osten ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Bundesregierung habe damit den Anspruch Deutschlands auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat »endgültig in die Tonne getreten«. Das gleiche hatte auch Cohn-Bendit im Interview mit Spiegel online behauptet. Fischer weiter: »Mir bleibt da nur die Scham für das Versagen unserer Regierung.« Dies gelte auch für jene Politiker von SPD und Grünen, die anfänglich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Guido Westerwelle (FDP) Beifall gespendet hätten – sich nun aber auf Kriegskurs begeben haben. Fischer argumentiert weiter: Die Enthaltungen von Rußland und China im Weltsicherheitsrat seien ein Verzicht auf das Veto gewesen, sie hätten damit de facto eine Zustimmung für den Weg zur Intervention in Libyen freigemacht. Deutschlands Enthaltung werde hingegen als faktisches Nein gewertet. Und so sieht Fischer für die Europäische Union einen »beträchtlichen außenpolitischen Kollateralschaden«. Deutschland könne man als Erfinder der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik bezeichnen. Dieser werde nun der gefährlichste Stoß versetzt. Fortan werde auch in der EU das Prinzip der »Koalition der Willigen« gelten, was Europa weiter schwächen werde. Man müsse sich ernsthaft Sorgen um die Zukunft des Kontinents und des transatlantischen Bündnisses machen. Das aber wäre die erste gute Nachricht im Libyen-Krieg.

*** Aus: junge Welt, 23. März 2011


Libysche Armee hat AFP-Journalisten in ihrer Gewalt

Zwei Reporter und Getty-Fotograf an unbekannten Ort gebracht ****

Nach drei Tagen der Ungewissheit ist das Schicksal der beiden in Libyen vermissten AFP-Journalisten und ihres Kollegen der Foto-Agentur Getty offenbar aufgeklärt. Die Gruppe befinde sich in der Hand der libyschen Armee, sagte ihr Fahrer Mohammed Hamed. Die drei Männer, darunter der deutsch-kolumbianische AFP-Fotograf Roberto Schmidt, seien auf dem Weg nach Adschdabija von Soldaten gestoppt und an einen unbekannten Ort gebracht worden.

Der 38-jährige britische Reporter Dave Clark und der 45-jährige Schmidt hatten am Freitagabend in einer E-Mail angekündigt, sie wollten in der Nähe von Tobruk Rebellen treffen und Flüchtlinge interviewen. Hamed wollte sie zusammen mit dem 45-jährigen Getty-Fotografen Joe Raedle, der die US-Staatsbürgerschaft hat, am Samstag in das fast 400 Kilometer von Tobruk entfernte Adschdabija fahren, das von Rebellen gehalten wird, aber von Regierungstruppen umschlossen ist.

Dutzende Kilometer vor der Rebellenbastion kreuzte ihr Fahrzeug eine Kolonne von Militärfahrzeugen, wie der Fahrer weiter berichtete. Hamed drehte um, wurde jedoch von den Soldaten verfolgt. Nach einer etwa fünfzig Kilometer langen Verfolgungsjagd schossen die Soldaten in die Reifen und stoppten so die Reporter, wie der Übersetzer Sudki Abdulkarim Dschibril im Radio sagte.

Vier Männer zwangen die Insassen dann nach den Schilderungen des Fahrers mit Waffengewalt, das Auto zu verlassen und sich auf die Straße zu knien, mit den Händen am Kopf. Clark rief den Angaben zufolge »Sahafa, Sahafa«, was Journalist bedeutet. Die Soldaten hätten das Fahrzeug der Reporter angezündet und seien mit ihnen in einem Militärfahrzeug davon gefahren.

Hamed kehrte am Sonntag (20. März) nach Tobruk zurück. »Wir wissen nicht, wo sie hingebracht wurden. Sie mussten ihre Telefone abgeben, aber nicht ihre Fotoapparate«, sagte der Übersetzer Dschibril.

AFP hatte seit Freitagabend nichts mehr von seinen Mitarbeitern gehört. Clark, der eigentlich in Paris arbeitet, ist seit dem 8. März als Reporter in Libyen im Einsatz, Schmidt seit dem 28. Februar. Der deutsch-kolumbianische AFP-Fotograf hat sein Heimatbüro in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Seit Beginn des Konflikts in Libyen wurden bereits mehrere Journalisten festgenommen. Am Dienstag waren die Fälle von insgesamt sieben noch festgehaltenen ausländischen Journalisten bekannt: Neben der Dreiergruppe waren dies vier Mitarbeiter des arabischen Fernsehsenders El Dschasira.

Am Montag (21. März) kamen zwei Reporter und zwei Fotografen der »New York Times« wieder frei und konnten nach Tunesien ausreisen. Ein freier französischer Fotojournalist, der in der Region Bengasi arbeitete, meldete sich am Montagabend nach Angaben von Reporter ohne Grenzen bei seiner Agentur, die seit anderthalb Tagen nichts von ihm gehört hatte.

**** Aus: Neues Deutschland, 22. März 2011


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