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Klage gegen Massenmord

Libyscher Familienvater geht juristisch gegen NATO vor. 16700 Luftangriffe seit Ende März. Ärzteorganisation IPPNW fordert Waffenruhe

Von André Scheer *

Ein Familienvater, der am 20. Juni seine Angehörigen beim NATO-Luftangriff auf die libysche Stadt Sorman verloren hat, geht juristisch gegen den Nordatlantikpakt vor. Wie die Nachrichtenagentur AFP am Mittwoch meldete, hat Khaled Hemidi über seinen Rechtsanwalt bei einem Gericht in Brüssel, dem Sitz des Hauptquartiers des Militärbündnisses, Klage auf Schadensersatz gegen die NATO eingereicht. Bei der Attacke der Aggressoren auf ein ziviles Wohnhaus in dem rund 70 Kilometer westlich von Tripolis gelegenen Ort waren libyschen Regierungsangaben zufolge 15 Menschen getötet worden, darunter die Frau und die drei Kinder des Klägers.

Die NATO hatte die Bombardierung der Stadt zunächst abgestritten, mußte sie dann jedoch zugeben. Sie habe einer »Kommando- und Kontrollstelle« gegolten, die in dem Wohnhaus eingerichtet worden sei, hieß es aus Brüssel. Mittlerweile kündigte die Allianz an, solche Angriffe auch weiterhin zu fliegen. Bei einer aus dem italienischen Neapel übertragenen Videopressekonferenz sagte ein NATO-Sprecher am Dienstag, die loyal zu Staatschef Muammar Al-Ghaddafi stehenden libyschen Truppen würden sich vermehrt in Fabriken, Lagerhäusern oder Landwirtschaftsbetrieben verschanzen. Dadurch würden diese Gebäude zu »zulässigen und notwendigen militärischen Zielen« (jW berichtete). Die NATO, die ihre Aggression gegen Libyen offiziell noch immer mit dem »Schutz der Zivilbevölkerung« und der »Durchsetzung einer Flugverbotszone« gemäß der UN-Sicherheitsratsresolution 1973 begründet, hat eigenen Angaben vom Mittwoch zufolge seit Ende März fast 16700 Lufteinsätze gegen das nord­afrikanische Land geflogen.

»Die humanitäre Lage in Libyen verschlechtert sich drastisch, je länger Bürgerkrieg, militärische Intervention der NATO und internationale Sanktionen gegen das Ghaddafi-Regime aufrechterhalten werden«, kommentierte dies die internationale Ärzteorganisation IPPNW am Mittwoch (27. Juli) unter Berufung auf einen aktuellen UN-Bericht. Die 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Vereinigung fordert deswegen die Einstellung der Angriffe auf Einrichtungen des Regimes und eine Feuerpause, um über Waffenstillstandsverhandlungen den blutigen Konflikt zu beenden. In diesem Zusammenhang appellierte IPPNW an die Bundesregierung, die derzeit den Vorsitz des UN-Sicherheitsrats führt, entsprechende diplomatische Initiativen zu ergreifen.

Berlin beteiligt sich jedoch an einer weiteren Eskalation des Krieges. Am vergangenen Wochenende wurde bekannt, daß die Bundesregierung dem selbsternannten »Nationalen Übergangsrat« der Rebellen in Bengasi mit einem 100-Millionen-Euro-Kredit aus der Klemme helfen will. Dieser stand Medienberichten zufolge kurz vor der Pleite. Offiziell soll die Summe für »zivile und humanitäre Zwecke« zur Verfügung gestellt werden. Kontrolliert werden kann dies jedoch nicht. Das mußte bereits die Schweizer Regierung feststellen, nachdem in Libyen auf seiten der Rebellen Waffen und Munition aufgetaucht waren, die mit Genehmigung der Berner Behörden an Katar geliefert worden waren. Das Staatssekretariat für Wirtschaft zog daraufhin am Mittwoch die Notbremse und kündigte an, zunächst keine weiteren Waffenexporte in das Emirat mehr zu genehmigen.

Demgegenüber hat nun auch Großbritannien den »Übergangsrat« als einzige Vertretung Libyens anerkannt und die noch in London verbliebenen Diplomaten der Ghaddafi-Regierung aufgefordert, das Land zu verlassen.

* Aus: junge Welt, 28. Juli 2011


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