Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Libyen lockt Kapital

Öl, Gas und eine marode Infrastruktur: Investoren entdecken Potential des Landes. Doch Bürokratie und die Launen der Ghaddafis behindern das Geschäft

Von Raoul Rigault *

Libyen wird zunehmend interessant für das globale Kapital, die sogenannten Investoren. Das ist eine relativ neue Entwicklung. Lange Zeit galt der faktische Staatschef Muammar Al-Ghaddafi international als Paria und oberster Terrorpate. Nach seiner Verurteilung der Anschläge vom 11. September 2001 und dem 2003 erklärten Verzicht auf Massenvernichtungswaffen fanden der heute 67jährige Oberst und seine sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija wieder Aufnahme in den Kreis der »zivilisierten Nationen«.

Dabei dürfte neben dem außenpolitischen auch der ökonomische Kurswechsel eine Rolle gespielt haben. Mit der am 6. März 2004 beschlossenen Kabinettsumbildung wurde nach dem Ende der von 1993 bis 2003 dauernden von den USA verhängten Sanktionen die Teilprivatisierung der Wirtschaft auf den Weg gebracht, das Steuerrecht entschärft und das Land für Auslandsinvestitionen geöffnet. Die größte öffentliche Bank »Sahara« wurde privatisiert und ging eine »Partnerschaft« mit der französischen BNP-Paribas-Gruppe ein. Erstmals überhaupt wurde in Benghasi eine Börse eröffnet.

Aller Begeisterung des »Revolutionsführers« und seiner Regierung für die Marktwirtschaft zum Trotz blieb der Reformkurs zunächst »widersprüchlich« und kam »nur schleppend voran«, wie das Auswärtige Amt der BRD auf seiner Internetseite beklagt. »Weiterhin dominiert die Staatswirtschaft.« Über eines ist man sich allerdings einig: »Für ausländische Investoren/Unternehmer bleibt Libyen ein interessanter Standort mit erheblichem Potential.« Das sieht auch die Financial Times so, die am 5. April von »reichen Zukunftsaussichten« sprach. Anlaß war eine internationale Konferenz in Tripolis, auf der der Berater des Industrieministers und Chef der privaten Consulting-Firma ABC, Abdulmagid Al-Mansuri, versicherte, daß es »kein Zurück« gebe. Statt dessen mehren sich Hinweise auf die Einrichtung von Freihandelszonen und eine erleichterte Lizenzvergabe an Investoren.

Das ist Musik in den Ohren vieler westlicher Konzernchefs. Und es tröstet sie über die anhaltenden Probleme bei der Visavergabe, eine lähmende Bürokratie und die Launen des Ghaddafi-Clans hinweg. Im April 2009 sondierte der damalige Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg an der Spitze einer rund 100köpfigen BRD-Abordnung die Geschäftsaussichten. Im Februar 2010 folgte die erste US-Handelsdelegation. 25 Unternehmen waren vertreten, doch dreimal so viel hätten mitgewollt. »Libyen ist mit keinem Land vergleichbar«, sagte ein ausländischer Bankier mit Sitz in Tripolis.

An lukrativen Anlagemöglichkeiten mangelt es nicht. Umgerechnet 75 Milliarden US-Dollar sind im laufenden Fünfjahresplan für den Ausbau der Infrastruktur vorgesehen, 60 Milliarden davon noch nicht ausgegeben. Allein in der Hauptstadt sollen zehntausend Sozialwohnungen gebaut, alle Häfen des Landes erweitert werden. Entlang des Mittelmeers ist eine moderne Eisenbahnlinie geplant. Bis zum Baubeginn 2009 verfügte das Land über keinen einzigen Kilometer Gleis. Auch Autobahnen sind bislang unbekannt. Obwohl jeder siebte der 6,3 Millionen Bewohner ein Auto besitzt, befinden sich die 47500 Kilometer befestigte Straßen in einem miserablen Zustand. Ebenso unzureichend ist die Telekommunikation. Auf 538000 Festnetzanschlüsse kommen nach letzten Zahlen 5,3 Millionen Mobilfunkabonnenten, aber nur knapp 300000 Internetnutzer.

Der Plan ist ein gigantisches Projekt, wenn man berücksichtigt, daß das gesamte Bruttoinlandsprodukt von 2008 laut IWF-Schätzungen je nach Berechnungsweise bei umgerechnet zwischen 60 und 90 Milliarden Dollar lag. Doch Geld ist genug vorhanden. Nicht ohne Grund gilt der nordafrikanische Staat als das Land mit den reichsten Energieressourcen des Kontinents. Die Rohölvorkommen werden auf 46 Milliarden Barrel (ein Barrel/Faß sind 159 Liter) geschätzt, 42 Milliarden davon sind nachgewiesen. Die Erdgasreserven sollen 1500 Billionen Kubikmeter betragen. Bei einer Förderung von 1,8 Millionen Faß am Tag beliefen sich die Exporterlöse 2008 auf 60,2 Milliarden Dollar. Die Hälfte davon aus dem Handel mit Deutschland und Italien. Bis 2013 soll die Förderung auf drei Millionen Barrel täglich steigen.

Das schwarze Gold ist zugleich Fluch und Segen. Kaum ein anderer Staat ist derart davon abhängig. 96 Prozent aller Ausfuhren entfallen auf die beiden Energieträger. Gleichzeitig müssen drei Viertel aller Nahrungsmittel importiert werden. Der nun anvisierte große Sprung nach vorn soll auch diese Monostruktur aufbrechen und zu einer Diversifizierung der Wirtschaft führen. Einhunderttausend Jobs sollen jedes Jahr entstehen, um die Massenarbeitslosigkeit zu senken, die sich durch ein jährliches Bevölkerungswachstum von 2,2 Prozent weiter erhöht. Drei von zehn Einwohnern sind nach übereinstimmenden Schätzungen erwerbslos.

Der Masse hat die Einführung der Marktwirtschaft mit Wachstumsraten von 6,7 bis 10,3 Prozent in den vergangenen vier Jahren kaum etwas gebracht. Löhne und Gehälter sind mit umgerechnet 300 bis 800 Dollar pro Kopf gering geblieben. Dafür macht das Land jetzt erstmals Bekanntschaft mit dem Phänomen Inflation. Deren Rate schnellte im letzten Jahr auf 10,4 Prozent. Kein Wunder, daß es an der Basis grummelt. Die verbliebenen Anhänger des arabisch-islamischen Sozialismus im Apparat melden sich verstärkt zu Wort und Ghaddafi schwadroniert zuweilen gar über die Abschaffung der Regierung oder eine Verstaatlichung der Ölförderung. Auch wenn Miliz und Geheimdienste allgegenwärtig sind, birgt allein das geringe Durchschnittsalter der Bevölkerung von nur 23,3 Jahren erheblichen sozialen Sprengstoff – bekanntlich neigt die Jugend am ehesten zur Revolte. Der dienstälteste Regent Afrikas hat guten Grund, auf der Hut zu sein.

* Aus: junge Welt, 28. April 2010


Zurück zur Libyen-Seite

Zurück zur Homepage