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Gaddafis friedliche Einnahme von Rom

Libyens Revolutionsführer besucht erstmals die einstige Kolonialmacht

Von Wolf H. Wagner, Rom *

Der libysche Revolutionsführer und Staatschef, Oberst Muammar al-Gaddafi, ist am Mittwoch zu seinem ersten Staatsbesuch in der italienischen Hauptstadt eingetroffen. Der dreitägige Besuch wird als historischer Höhepunkt der Wiederannäherung zwischen der früheren Kolonialmacht Italien und dem Ölstaat gewertet.

Pünktlich um 12 Uhr mittags landete die Maschine mit dem libyschen Präsidenten an Bord. Auf dem Flugfeld wartete der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi, der sich erst kurzfristig dazu entschlossen hatte.

Nach offiziellen Terminen mit Staatspräsident Giorgio Napolitano und Premier Berlusconi am Mittwochnachmittag soll der libysche Staatschef am Donnerstag im Senat und auch vor dem Parlament sprechen. Es sind vor allem wirtschaftliche Gründe, die das lange Schweigen zwischen der einstigen Kolonialmacht Italien und der Kolonie Libyen beendet haben. Italien erwartet von den neu aufgenommenen Beziehungen libysches Erdöl und Erdgas. Andererseits wollen die Italiener auch in Libyen investieren und an großen Bau- und Industrievorhaben beteiligt werden.

Libyen hatte sich in einem langen Befreiungskrieg von der einstigen Kolonialmacht losgelöst. Die von 1911 bis 1951 andauernden Kämpfe forderten einen hohen Blutzoll, fast ein Viertel der libyschen Bevölkerung kam dabei ums Leben. Silvio Berlusconi hatte sich bereits im Sommer 2008 für die Verbrechen der Kolonialzeit entschuldigt und gleichzeitig ein über fünf Milliarden Dollar schweres Investitionsprogramm angekündigt.

Beide Regierungsseiten schlossen vor kurzem eine sogenannte Rücknahmevereinbarung ab, die besagt, dass Italien berechtigt ist, über Libyen einreisende Bootsflüchtlinge sofort wieder in den nordafrikanischen Staat abzuschieben. Dies vor allem ist der Anlass zu schweren Auseinandersetzungen und Protesten zwischen der Mitte-Rechts-Regierung Berlusconis und den oppositionellen Parteien und Menschenrechtsgruppen.

Muammar al-Gaddafi erklärte nach den ersten Treffen mit Napolitano und Berlusconi, es sei an der Zeit, »mit Mut die Schatten der Vergangenheit zu überspringen«. Giorgio Napolitano betonte, dass mit der Zusammenarbeit zwischen Libyen und Italien der Mittelmeerraum zu einer Friedenszone gestaltet werden sollte. Dabei müsse vor allem auch der Nahostkonflikt gelöst werden. Von seinem Gast forderte der italienische Staatspräsident, Israel anzuerkennen und gemeinsam mit Italien daran zu arbeiten, dass sowohl ein israelischer als auch ein palästinensischer Staat existieren kann. »Zwei Völker, zwei Staaten«, proklamierte Napolitano. Auch Silvio Berlusconi betonte in seinem Treffen mit Gaddafi, dass nun eine »lange schmerzvolle Periode« beendet sei.

Die Senatoren des Partito Democratico (Pd) haben angekündigt, aus Protest gegen den libyschen Staatschef nicht an der morgigen Senatssitzung teilnehmen zu wollen. Die Senatoren der radikalen Partei, Marco Perduca und Donatella Poretti, sind aus Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen in Libyen in Hungerstreik getreten. »Es ist eine Schande, dass ein Diktator wie Gaddafi, der keine Menschenrechte anerkennt, im Parlament sprechen darf«, erklärte Donatelle Poretti.

Die Studentenbewegung »L'Onda« kündigte Demonstrationen in Rom an. Die Sicherheitsvorkehrungen der römischen Polizei sind imponierend: Der Verkehr auf allen Trassen, die der libysche Staatspräsident befährt, wurde eingestellt. Ein absolutes Versammlungs- und Demonstrationsverbot wurde für den weiten Raum um den römischen Park Villa Paphili ausgesprochen, wo Gaddafi residiert und im Park für Empfänge ein riesiges Berberzelt hatte errichten lassen.

Erst jüngst wurden erneut Berichte bekannt, denen zufolge an die Küste des nordafrikanischen Staates angelandete Bootsflüchtlinge, darunter Frauen und Kinder, in Auffanglager am Rande der Wüste verbracht wurden. Dort müssen sich die Menschen ohne rechtliche Anhörung oft längere Zeit aufhalten.

Die offiziellen Regierungskreise der Mitte-Rechtskoalition des »Popolo della Liberta« setzen sich sowohl über die Proteste als auch die Berichte hinweg. Die wirtschaftlichen Beziehungen lassen gerade auch in Krisenzeiten moralische Bedenken in den Hintergrund rücken.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2009


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