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Die Jagd ist eröffnet

Internationaler Strafgerichtshof gibt das Signal zum finalen Krieg gegen Gaddafi

Von Peter Strutynski *

100 Tage nach Beginn des Krieges gegen Libyen hat sich nun auch der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag in die Auseinandersetzungen eingemischt und Anklage erhoben. Dass „Revolutionsführer“ Gaddafi, sein Sohn Saif al-Islam, der als „faktischer Ministerpräsident“ Verantwortung trage, sowie der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes, Abdullah al-Senussi, zu den Verdächtigen gehören würden, war erwartet worden und ist aus Sicht des Gerichts nur folgerichtig: Diese drei Personen gehörten zu den prominenten Befehlshabern der staatlichen Organe zur Abwehr der Rebellion in Bengasi und anderen libyschen Städten und hätten sich zahlreicher „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ schuldig gemacht.

Wir wollen hier nicht darüber spekulieren, ob solche Verbrechen tatsächlich stattgefunden haben oder ob sie nur behauptet werden. Die Beweislage ist wenig überzeugend und stützt sich überwiegend auf „Augenzeugen“-Berichte: Von angeordneten Schüssen auf Demonstranten, Artilleriefeuer auf Trauergemeinden, Vergewaltigungen und Folter ist die Rede. Bezweifelt werden muss, ob diese Anschuldigungen für einen Haftbefehl überhaupt ausreichen. Immerhin ist es in der Geschichte des ICC erst das zweite Mal, dass gegen einen amtierenden Staatschef (auch wenn Gaddafi formal ein solches Amt gar nicht bekleidet, ist er es doch kraft seiner Macht) ein internationaler Haftbefehl erlassen wird. Im anderen Fall handelte es sich um den sudanesischen Präsidenten al Baschir, der seit dem März 2009 mit einem internationalen Haftbefehl verfolgt wird. Auch in den anderen Fällen, in denen das ICC ermittelt und bereits Angeklagte hinter Schloss und Riegel gebracht hat, handelt es sich ausschließlich um Afrikaner. Johan Galtung, Nestor der internationalen Friedensforschung, vermutet dahinter die Fortsetzung kolonialer Tradition: Das Völkerstrafrecht werde einseitig „im Interesse des Westens angewandt“ (Galtung 2011).

Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man die Ermittlungstätigkeit des ICC genauer betrachtet (vgl. zum Folgenden Strutynski 2006a und Strutynski 2006b). Das Gericht in Den Haag hat in der Vergangenheit zahlreiche Strafanträge, die im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg gestellt worden waren, abgelehnt. Dabei ging es vor allem um zwei Argumentationen: Erstens seien „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gemäß Art. 7 des Statuts des Gerichts Handlungen, "die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen" werden. Beim Irakkrieg habe das den alliierten Streitkräften aber nicht nachgewiesen werden können. Dabei ging es vor allem um Vergehen der britischen Streitkräfte; gegen US-Streitkräfte wurde gar nicht erst ermittelt, da die USA dem ICC nicht beigetreten sind. Blieben - zweitens - die Verdachtsfälle übrig, die sich auf Kriegsverbrechen beziehen. Von Kriegsverbrechen kann dann gesprochen werden, wenn absichtlich Zivilisten angegriffen werden (was bereits von den Genfer Konventionen verboten ist, auf die das Statut des ICC in Art. 8 verweist) oder wenn bei Angriffen auf militärische Ziele unverhältnismäßig viele zivile Opfer in Kauf genommen werden ("vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder weit reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen; Art. 8,2 b iv). Bei den Untersuchungen zum Irak kam der Chefankläger Luis Moreno-Ocampo (er bekleidet dieses Amt heute noch) zu dem Ergebnis, dass möglicherweise zwar Kriegsverbrechen stattgefunden hätten, dass sie aber auf keinen Fall "in großem Umfang verübt“ wurden, d.h. die vom Statut (Art. 8,1) geforderte „besondere Schwere“ des Verbrechens nicht vorgelegen habe. Ausdrücklich wurde auf unvergleichlich größere Kriegsverbrechen in anderen Konfliktregionen hingewiesen, etwa im Kongo, in Nord-Uganda und in Darfur (Sudan). In jedem dieser drei Fälle habe es Tausende von vorsätzlichen Tötungen, unzählige Fälle sexueller Gewalt und Entführungen sowie Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen gegeben.

Man sieht, dass es für den Chefankläger einen großen Ermessensspielraum gibt, Anklage zu erheben oder darauf zu verzichten. Moreno-Ocampo entscheidet selbstverständlich nicht eigenmächtig, sondern er ist bestimmten politischen Zwängen und Rücksichtnahmen unterworfen. Gehöriger Druck ist diesmal von der Kriegsallianz ausgegangen, die sich ja bereits das Interventionsrecht im UN-Sicherheitsrat mit der Behauptung erschwindelte, Gaddafis Truppen bereiteten ein Massaker an der Zivilbevölkerung in Bengasi vor; die „Weltgemeinschaft“ müsse der drohenden „humanitären Katastrophe“ militärisch zuvorkommen, oder, wie Barack Obama am 11. März 2011 sogar behauptete, es gälte einen „Völkermord“ zu verhindern ("preventing genocide"). Gaddafis Drohung galt indessen ausschließlich den – damals bereits bewaffneten – Rebellen, und nicht der Zivilbevölkerung. Hierzu gibt es eine interessante Einlassung des Professors für öffentliche Angelegenheiten an der Universität von Texas, Alan J. Kuperman:
„Gaddafi (hat) niemals mit einem Massaker an der Zivilbevölkerung in Bengasi gedroht, wie Obama behauptete. Die Warnung 'es werde kein Pardon gegeben' vom 17. März richtete sich ausschließlich gegen die Aufständischen, wie die New York Times berichtete. Zudem habe der libysche Machthaber denjenigen eine Amnestie versprochen, die 'ihre Waffen wegwerfen', Gaddafi bot den Rebellen sogar einen Fluchtweg und offene Grenzübergänge in Richtung Ägypten an, um einen 'Kampf bis zum bitteren Ende' zu vermeiden.“ (Kuperman 2011, hier zit. nach Henken 2011.)

Der Internationale Strafgerichtshof ist nicht verantwortlich für die Entscheidungen des Sicherheitsrats – weder für die Kriegsermächtigung nach UN-Resolution 1973 vom 17. März 2011 noch für den Auftrag des Sicherheitsrats vom 26. Februar 2011 an das ICC, Ermittlungen in Sachen Gaddafi aufzunehmen. Er ist aber voll verantwortlich für die korrekte und rechtsstaatlichen Maßstäben entsprechende Durchführung dieses Auftrags. Zu beanstanden sind insbesondere die Parteilichkeit (es wurde nur nach einer Seite ermittelt, das Kriegshandeln der Rebellen blieb bisher vollkommen außer Acht), die mangelhafte Beweisaufnahme vor Ort (es wurde kein Ermittlungsteam nach Libyen entsandt) und die für Gerichte doch erstaunliche Geschwindigkeit, mit der die Anklageschrift erstellt wurde. „Die Geschwindigkeit, mit der der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Luis Moreno-Ocampo, einen Haftbefehl gegen Muammar al-Gaddafi … geschrieben hat, entspricht bei uns der Frist, innerhalb der ein Gebührenbescheid für eine Geschwindigkeitsüberschreitung im Straßenverkehr ausgestellt wird“, kommentiert Norman Paech sarkastisch und weist auf anhängige Verfahren in Sachen Überfall auf die Gaza-Flottille 2010 oder den israelischen Feldzug gegen Gaza (Dez. 2009/Jan. 2010), die immer noch auf Erledigung warten (Paech 2011).

Selbst wenn wir dem Gericht bescheinigen wollten, dass es trotz der vorgelegten Eile juristisch korrekt vorgegangen sei, bleiben am Ende doch die mageren Beweise für die Anschuldigungen. Diese beziehen sich auf den Zeitraum vom 15. bis 28. Februar 2011. Lühr Henken hat in seiner jüngsten Arbeit über den Libyen-Konflikt (Henken 2011) die wichtigsten Daten zusammengetragen und kommt zu Ergebnissen, die eher auf vereinzelte gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten bzw. bewaffneten Oppositionellen hindeuten denn auf einseitig vorgenommene bewaffnete Angriffe der Staatsmacht auf Zivilpersonen. Spätestens seit dem 20. Februar sind demnach die Oppositionellen (deren Herkunft und politische Orientierung unklar ist) bewaffnet und haben zum Teil auch schwere Waffen von der libyschen Armee erbeutet. Für das Maschinengewehrfeuer auf eine Trauergemeinde in al Baida am 18. Februar – auch dies ein Punkt der Anklage des ICC – gibt es außer Augenzeugenberichten keinerlei Belege: vor allem keine Bilder – was heutzutage, wo alles per Handy in Echtzeit rund um den Globus geschickt werden kann, doch seltsam erscheint. Selbst Al Dschasira stützt sich lediglich auf ein Telefongespräch mit einem „Augenzeugen“, allerdings nicht in al Baida, sondern in Bengasi. Die FAZ macht am nächsten Tag aus dem Vorfall ein „Massaker“ und seitdem kursieren unterschiedlich hohe Angaben über die Zahl der Toten. Bei alledem muss berücksichtigt werden, dass zu diesem Zeitpunkt die Rebellen sowohl in al Baida als auch in Bengasi bereits die Macht übernommen hatten.

Auch ein Blick auf die Opferzahlen nach der Festigung der Macht der Rebellen in deren Hochburg Bengasi zeigt, dass zwar viele Tote zu beklagen waren (Ärzte in Bengasi sprachen am Ende der Kämpfe von 256 Toten und rund 2.000 Verletzten), dass es sich hierbei augenscheinlich aber nicht nur um Zivilpersonen und nicht nur um Oppositionelle handelt. Von “Massakern“ an der Zivilbevölkerung, von „Völkermord“ oder davon, dass Gaddafi sein eigenes Volk „abschlachte“, wie die US-Botschafterin bei der UNO, Susan Rice, sagte, kann also nicht die Rede sein. Hätte der Chefankläger beim ICC im Fall von Libyen dieselben Maßstäbe angelegt wie im Fall von Irak, hätte er niemals Anklage wegen besonders schwerer Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit erheben dürfen. Hier werden doppelte Standards verwendet und selektive Schuldzuweisungen vorgenommen.

Wer eine politische Absicht dahinter vermutet, dürfte richtig liegen. Die NATO-Kriegsallianz ist nach 100 Tagen unablässiger Luftangriffe und Bombardements am Ende ihres Lateins angelangt. Gaddafi und sein Regime lassen sich offenbar nicht so leicht von der Macht vertreiben, wie das ursprünglich angenommen worden war. Hinzu kommt, dass einige Befürworter der UN-Resolution 1973 (2011) – z.B. Südafrika – und andere Staaten, die sich im Sicherheitsrat enthalten haben (z.B. China, Russland), die Ausweitung des Krieges und die Änderung der Kriegsziele der NATO (von der Flugverbotszone und dem angeblichen Schutz der Zivilbevölkerung, wie es die UN-Resolution verlangte, hin zum Regimewechsel, also dem Sturz Gaddafis) nicht mehr mittragen wollen. Die Afrikanische Union verlangt schon lange eine Waffenruhe, was aber vor allem von den Rebellen regelmäßig abgelehnt wird, Russland hat Sondierungsgespräche mit Emissären Gaddafis geführt, Italien denkt laut über ein Ende seines militärischen Engagements nach, kurzum: Die Bereitschaft der Welt, den Krieg zu akzeptieren, scheint stark gesunken zu sein. Da kommt die Entscheidung des ICC gerade recht. Jetzt hat die NATO sogar eine höchstrichterliche Lizenz zur Jagd auf Gaddafi – tot oder lebendig. Fehlt nur noch das Kopfgeld.

Literatur/Links: * Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Doppelte Standards" in der Online-Ausgabe des "Freitag", 29. Juni 2011; www.freitag.de [externer Link!]


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